Lars Klingbeil redet im Deutschen Bundestag zur Demokratiebewegung in Russland

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist gut, dass wir diese Debatte überfraktionell führen. Wir alle blicken in diesen Tagen nach Russland und schauen auf die Ereignisse, die wir alle nicht vorausgeahnt haben, auch nicht hinsichtlich der Dynamik. Wir haben eine interfraktionelle Arbeitsgruppe, die, sicherlich auch aufgrund der Aufforderung des Kollegen Beck, einen Antrag dazu erarbeiten wird.

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Er hat geredet und ist sofort gegangen!)

 

 

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Wir wünschen uns auf jeden Fall gemeinsam, dass es diesbezüglich vorangeht.

Wenn man diese Debatte verfolgt, erkennt man, dass wir alle um den richtigen Ton ringen. Hier war vorhin von Anbiederung die Rede und auch von Anklage. Ich
glaube, wir versuchen, genau dazwischen einen Weg zu finden. Als Mitglieder des deutschen Parlaments und als Mitglieder der Deutsch-Russischen Parlamentariergruppe
bauen wir immer wieder Kontakte auf und versuchen, den Dialog zu fördern. Wir weisen auf Missstände hin, versuchen aber vor allem, Gesprächskanäle aufzubauen, sodass wir unseren russischen Freunden mit auf den Weg geben können, was uns hinsichtlich der Entwicklung des Landes besorgt und an welchen Stellen wir uns Veränderungen wünschen.

Russland ist ein Land mit einer bewegenden und komplexen Geschichte. Die russische Bevölkerung hat viele Herausforderungen zu meistern gehabt. Die Geschichte zeigt, dass dieses Land es oft nicht leicht gehabt hat. Aber die Menschen haben sich diesen Herausforderungen immer wieder gestellt, und sie sind heute stolz auf vieles, was sie in Russland erreicht haben. Die russische Gesellschaft befindet sich seit 20 Jahren auf dem Weg in Richtung Demokratie. Mir ist es deshalb besonders wichtig, dass wir uns, wenn wir heute über die aktuellen Entwicklungen reden, bewusst machen, in welchem Ton wir reden. Wir sehen mit unserem demokratischen Selbstverständnis, dass es richtig ist, Fehlentwicklungen in aller Deutlichkeit anzusprechen und sie zu kommentieren. Aber wir müssen aufpassen, dass wir das nicht von oben herab tun, sondern wir müssen die Augenhöhe suchen. Wir haben eine gemeinsame Geschichte mit Russland, aus der für uns eine große Verantwortung resultiert, wenn es um die Entwicklung dieses Landes geht. Wir sollten uns daher selbst nicht erhöhen. Wir sollten aufpassen, wie wir aus der Distanz beurteilen, und wir sollten nicht pauschalisieren. Russlands Weg in die Demokratie war nicht immer einfach. Wir Deutsche wissen selbst, wie schwierig, wie steinig Wege hin zu einer Demokratie sein können und wie viele Rückschläge man in Kauf zu nehmen hat.

Wenn wir die demokratischen und zivilgesellschaftlichen Prozesse in Russland sehen, dann wissen wir: Das braucht Zeit. Wenn wir heute wahrnehmen, wie viele Menschen in Russland den Willen haben, mehr Demokratie zu erfahren, dann sollten wir nicht den Zeigefinger erheben, sondern versuchen, den richtigen Ton zu finden. Wir brauchen keine neunmalklugen Ratschläge. Das hilft den deutsch-russischen Beziehungen nicht, das hilft der russischen Bevölkerung nicht, und das hilft auch der russischen Demokratie nicht.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt keine russische Demokratie! Sie haben überhaupt nichts verstanden! Sie reden wie Ihr ehemaliger Chef! – Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)

Der Frust der russischen Bevölkerung ist nachvollziehbar. Das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft ist in eine Krise geraten, die in diesen Tagen sichtbar wird. Bilder im Internet und im Fernsehen haben die Wahlfälschung offensichtlich gemacht. Hohe Zustimmungsraten waren in Russland keine Seltenheit, aber jetzt erleben wir die Offensichtlichkeit der Wahlfälschung. Das Internet spielt dabei eine große Rolle. Hierauf
will ich gleich noch eingehen.

Große Teile der russischen Bevölkerung haben das Gefühl, dass sie nicht mehr ernst genommen werden,

(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! So ist es!)

dass zwischen Staat und Gesellschaft ein Missverhältnis besteht, dass die Legitimität der russischen Regierung schwindet. Legitimität ist eine Voraussetzung für zivilgesellschaftliche Entwicklungen, ist Voraussetzung für eine nachhaltige Wirtschaftspolitik und ist Voraussetzung für ein verlässliches politisches Handeln. Es liegt daher im Interesse Deutschlands und der Europäischen Union, dass jetzt Aufklärung geleistet wird, dass Verantwortlichkeiten benannt werden und dass die Legitimation wieder gestärkt wird.

Die russische Parlamentswahl hat ebenso wie viele andere Fälle in diesem Jahr gezeigt, welche Rolle das Internet mittlerweile spielt, wenn es um die Stärkung demokratischer
Prozesse geht. Internet bedeutet Freiheit, Internet stärkt die Demokratie, und Internet stärkt die Meinungsfreiheit. Noch am Tag der Wahl erschienen Videos auf Youtube, die Wahlfälschung zeigen. Internetvideos sind mittlerweile ein wichtiges Medium, wenn es
um Aufklärung, Transparenz und zivilgesellschaftliche Kontrolle geht. Die Wahlbeobachtergruppe Golos hat zusammen mit einer Internetzeitung eine Plattform eingerichtet, auf der Verstöße gegen das Wahlgesetz dokumentiert werden konnten.

(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dagegen hat es aber inzwischen ein staatsanwaltschaftliches Verfahren gegeben! Das ist unglaublich, was er da sagt! – Gegenruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Hören Sie doch einmal zu!)

– Lassen Sie mich bitte ausreden.

(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwischenrufe sind erlaubt, Herr Klingbeil!)

7 700 Verstöße wurden dort gemeldet. Die Informationen über Wahlfälschungen konnten in Echtzeit über Twitter verbreitet werden, und Demonstrationen wurden über Facebook organisiert.

Das alles zeigt uns, welche Rolle soziale Netzwerke heute spielen. Das ist auch eine Aufforderung an uns selbst, dass wir als Bundesrepublik Deutschland, als deutsches Parlament darauf achten, dass das Internet gestärkt wird, dass wir ein freies Internet haben, dass wir einen freien Zugang zum Internet haben, dass wir die Freiheit des Netzes auch auf globalen Konferenzen und in globalen Abkommen stärken und dafür sorgen, dass es hier keine Zensur gibt. Leider ist meine Redezeit jetzt um. Ich hätte gerne noch einiges mehr gesagt. Frau Beck, ich verstehe manchen Zwischenruf, den Sie hier gemacht haben, nicht; denn ich glaube, dass wir in den Ausführungen nicht weit auseinanderliegen.

Herzlichen Dank fürs Zuhören.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)