Immer mehr Menschen sind überzeugt, dass wir mit bisherigen Wachstums- und Wirtschaftsmodellen keinen nachhaltigen Wohlstand erreichen. Nur noch 48 Prozent der Bundesbürger sind der Ansicht, dass sich die soziale Marktwirtschaft in Deutschland bewährt habe. Das durch Finanzspekulationen getriebene Wachstum ist wie ein Kartenhaus in sich zusammen gefallen und hat Hunderte von Milliarden an Kosten verursacht. Einseitige Kapitalgewinne gingen zu Lasten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die Ungleichheit der Einkommensverteilung hat zugenommen. Und es ist breiter Konsens, dass ein seit Jahrzehnten auf verschwenderischen Ressourcenverbrauch basierendes Wachstum die Lebensgrundlage unserer Kinder und Enkel ruiniert.
Rede des Fraktionsvorsitzenden Frank-Walter Steinmeier MdB zur Einsetzung Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" am 01.12.2010:
Die soziale und ökologische Doppelkrise unserer Zeit hat eine grundlegende Diskussion über gesellschaftlichen Wohlstand, individuelles Wohlergehen und nachhaltige Entwicklung angestoßen. Nicht nur in Deutschland, auch in anderen Industriestaaten gibt es eine Debatte darüber, ob die Orientierung auf das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausreicht, um Wohlstand, Lebensqualität und gesellschaftlichen Fortschritt angemessen abzubilden.
Alternativen zum BIP
Die Lebensqualität der Menschen ist über Jahrzehnte hinweg mit dem ökonomischen Produktionsniveau von Volkswirtschaften gleichgesetzt worden. Lange Zeit galt das BIP, also der Gesamtwert aller innerhalb einer Volkswirtschaft hergestellten Waren und Dienstleistungen, als Gradmesser für das Wohlergehen und damit die Lebenszufriedenheit der Menschen, die in dieser Volkswirtschaft leben.
Robert Kennedy hat es 1968 auf den Punkt gebracht: „ Das Bruttoinlandsprodukt misst alles, nur nicht das, was das Leben lebenswert macht.“ Der Zustand der Umwelt, das Niveau von Gesundheit und Bildung, Sicherheit, politischer Teilhabe und Zugang zu Arbeit, aber auch die Verfügbarkeit von freier Zeit – all das erfasst das BIP nicht. Eine Umweltkatastrophe wie die Havarie einer Ölplattform im Golf von Mexiko kann wegen kostspieliger Gegenmaßnahmen absurderweise sogar zu einer Steigerung des BIP führen. Auch über die Verteilung von Wohlstand und Lebenschancen gibt das BIP keine Auskunft. Wenn wir wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt messen wollen, dann brauchen wir einen neuen Maßstab.
Ein neuer Fortschrittsindikator
Wir müssen die Ziele unseres Wirtschaftens neu definieren. Es gilt, nachhaltige Lebensqualität und gesellschaftlichen Fortschritt in den Mittelpunkt zu rücken.
Eine breite Mehrheit der Menschen sieht die Notwendigkeit einer umfassenderen Definition von Fortschritt. Sie lehnt ökologischen Raubbau ebenso ab wie eine permanente Steigerung des beruflichen Drucks auf Kosten der Gesundheit und der Familie. Freiheit und Selbstbesimmung haben einen hohen Wert. Viele glauben nicht mehr daran, dass die bisherige Form des Wachstums zu mehr Lebensqualität führt.
Deshalb soll ein neuer Wohlstands- bzw. Fortschrittsindikator entwickelt werden, der auch den Aspekten individueller Lebensqualität, sozialer Gerechtigkeit, Umwelt, Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe Rechnung trägt.
Dieser Aufgabe wird sich die neue Enquête-Kommission „Wohlstand, Wachstum, Lebensqualität“ annehmen, die der Deutsche Bundestag nun beschlossen hat. Die Initiative für die Kommission war von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ausgegangen. Union und FDP schlossen sich unserem Vorhaben an.
Aufgaben der Enquete-Kommission
Welches Wachstum wollen wir? Was bringt mehr Lebensqualität? Wie organisieren wir breitere Teilhabe am Wohlstand? Wie garantieren wir die globale Tragfähigkeit des Wohlstandsversprechens? Diese Diskussion muss politisch aufgenommen und vorangetrieben werden. Das ist Aufgabe der Enquête-Kommission.
Die Kommission soll aus den gewonnen Erkenntnissen noch in dieser Legislaturperiode konkrete Handlungsempfehlungen entwickeln. Sie soll Wege zu einem tragfähigen Wohlstand und gesellschaftlichem Fortschritt weisen und Schritte hin zu einem nachhaltigen Wirtschaften definieren, das ökonomische, ökologische und soziale Zielvorstellungen in Einklang bringt.
Schwerpunkte, die untersucht werden sollen
1. Stellenwert von Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft
Unser Wirtschaftssystem ist auf Wachstum ausgerichtet. Bleibt volkswirtschaftliches Wachstum aus, entsteht schnell eine Reihe von sozialen und wirtschaftlichen Problemen. Diese Wachstumszwänge sind in den Blick zu nehmen. Wie erreichen wir sozialen Fortschritt auch mit niedrigeren Wachstumsraten? Wie müssen wir unser Finanz- und Sozialsystem umbauen? Welche Rolle spielen dabei eine gerechte Einkommensverteilung, öffentliche Daseinsvorsorge und eine nachhaltige Ordnung der Kapitalmärkte? Wie muss die internationale Arbeitsteilung und die globale Wirtschaft geregelt sein, damit Lebensqualität weltweit steigen kann?
2. Entwicklung eines ganzheitlichen Fortschrittsindikators
Um eine geeignete Grundlage zur Bewertung politischer Entscheidungen anhand ökonomischer, ökologischer und sozialer Kriterien zu schaffen, wird die Kommission Einflussfaktoren von Lebensqualität und gesellschaftlichem Fortschritt gewichten und zu einem gemeinsamen Indikator zusammenführen. Insbesondere Arbeit, Bildung, Gesundheit und Umwelt sollen dabei größere Bedeutung bekommen.
3. Wachstum, Ressourcenverbrauch und technischer Fortschritt – Möglichkeiten und Grenzen der Entkopplung
Die Enquête-Kommission wird untersuchen, ob und wie das Wachstum des BIP vom Wachstum des Verbrauchs an Ressourcen, Umwelt-, Biokapital sowie klimaschädlicher Emissionen dauerhaft entkoppelt werden kann. Außerdem wird sie Zukunftsfelder technischen Fortschritt identifizieren, von denen eine Reduzierung des Ressourcenverbrauchs erwartet werden kann.
4. Nachhaltig gestaltende Ordnungspolitik
Ordnungspolitik macht Ressourcenschonung und nachhaltige Entwicklung im Idealfall zum wirtschaftlichen Eigeninteresse von Unternehmen und Bürgern. Welche ordnungspolitischen Bedingungen müssen erfüllt sein, damit die Ziele des nachhaltigen Wirtschaftens im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft erreicht werden können?
5. Arbeitswelt, Konsumverhalten und Lebensstile
Den Einfluss von Arbeitswelt, Konsumverhalten und Lebensstilen auf Möglichkeiten nachhaltigen Wirtschaftens zu untersuchen, ist eine weitere Aufgabe. Wir wollen besonders die Arbeit der Zukunft untersuchen: Wie können Arbeitsorganisation, soziale Sicherheit bei höherer Flexibilität und Selbstbestimmung zu mehr Lebensqualität beitragen? Arbeitszeitmodelle, Weiterbildung, Lohnstrukturen und Mitbestimmung gehören dazu. Gute Arbeit und verantwortungsbewusstes Verhalten als Verbraucher müssen Hand in Hand gehen.
Mitglieder
Die Enquête-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ setzt sich aus 17 Abgeordneten aller Fraktionen sowie 17 externen Sachverständigen zusammen.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird in der Kommission durch Peter Friedrich (Sprecher), Daniela Kolbe (Vorsitz), Oliver Kaczmarek und Ingrid Arndt-Brauer vertreten. Stellvertretende Mitglieder sind Eva Högl, Anton Schaaf, Hubertus Heil und Ulrich Kelber.
Als externe Sachverständige benannte die SPD-Bundestagsfraktion Prof. Henrik Enderlein (Hertie School of Governance, Berlin), Dietmar Hexel (DGB-Bundesvorstand), Michael Müller (Staatssekretär a.D.) sowie Prof. Gert Wagner (DIW Berlin).