Fraktion intern: Frau Faeser, beim Thema Migration dreht sich die aktuelle Debatte vor allem über die Überlastung der Kommunen. Über eine Million Menschen aus der Ukraine sind nach Deutschland gekommen, und auch aus anderen Ländern steigt die Zahl der Asylbewerber weiter stark an. Die Kommunen wissen nicht, wo sie alle unterbringen können. Wie kann der Bund den Kommunen helfen?
Nancy Faeser: Es ist in der Tat so, dass 2022 acht von zehn geflüchteten Menschen aus der Ukraine zu uns kamen. Auch durch das sagenhafte Engagement vor Ort – von unzähligen Privatpersonen, zivilgesellschaftlichen Organisationen, den Sicherheitskräften und Behörden – konnten wir viele Menschenleben retten und Hilfe leisten. Dafür danke ich allen Beteiligten von Herzen.
Kommunen, Länder und der Bund bewältigen diesen Kraftakt gemeinsam. Dabei ist vom Grundgesetz vorgegeben, dass der Bund nicht direkt mit den Kommunen zusammenarbeiten darf. Aber wir unterstützen, wo und wie wir können.
Der Bund hat den Ländern und Kommunen 2022 insgesamt etwa sieben Milliarden Euro zu Verfügung gestellt, in diesem Jahr werden es etwa acht Milliarden sein. Darin sind unter anderem auch Unterstützungen für die Unterbringung von Schutzsuchenden enthalten; etwa durch die mietzinsfreie Überlassung von über 330 Bundesliegenschaften.
Fraktion intern: Die große Herausforderung ist ja, die Menschen, die bei uns bleiben dürfen und wollen, zu integrieren. Sind wir dazu gut genug ausgestattet – finanziell, aber auch was die Gesetze betrifft?
Nancy Faeser: Wir wollen, dass alle Menschen, die zu uns kommen, von Anfang an gut integriert werden. Denn es ist immer wichtig, unsere Werte und unsere Sprache zu vermitteln – unabhängig von der Bleibeperspektive. Deshalb haben wir die Zahl und Plätze der Integrationskurse massiv erhöht und wir vereinfachen den Zugang.
Zum 31. Dezember 2022 ist zudem das Chancen-Aufenthaltsrecht in Kraft getreten – ein echter Neuanfang in der Integrationspolitik. Wir setzen damit endlich den Kettenduldungen ein Ende. Diese waren für die Betroffenen ebenso wie für die Behörden eine große Belastung.
„Wer sich zugehörig fühlt, übernimmt Verantwortung und bringt sich ein“
Fraktion intern: Viele Menschen sind skeptisch, dass so viele bei uns Schutz suchen und bleiben. Was sagen Sie denen?
Nancy Faeser: Viele der aus der Ukraine geflüchteten Menschen möchten sobald wie möglich wieder in ihre Heimat zurück. Aber auch für diejenigen, die bleiben wollen, gilt: eine gelingende Integration bietet viel mehr Chancen als Risiken. Das, was die Menschen hier einbringen können, ist für unsere Gesellschaft an vielen Stellen ein echter Gewinn.
Fraktion intern: Wenn Sie auf die vergangenen Jahrzehnte schauen – wie bewerten Sie die Integration? Schließlich nehmen wir seit den Sechzigerjahren, als wir um die ersten sogenannten Gastarbeiter warben, Zuwanderer bei uns auf.
Nancy Faeser: Die Generation der Gastarbeiter hat unser Land mit aufgebaut, auch die nachfolgende Generation hat viel dazu beigetragen, unseren Wohlstand zu sichern. Gleichzeitig wurden diesen Menschen nie echte Integrationsangebote gemacht. Und noch immer müssen Menschen, die zu uns kommen, hohe bürokratische Hürden überwinden, um dazuzugehören. Für das Zusammenleben vor Ort ist das eine schwere Hypothek. Einwanderung wurde in den vergangenen Jahrzehnten eher widerwillig verwaltet statt aktiv gestaltet. Diese Bundesregierung hat sich deshalb für einen Neuanfang in der Migrationspolitik entschieden, der einer modernen Einwanderungsgesellschaft gerecht wird.
Fraktion intern: Sie betonen ja immer wieder, dass wir längst ein Einwanderungsland sind. Was genau heißt das für Sie?
Nancy Faeser: In Deutschland leben derzeit mehr als zwölf Millionen Menschen, die keinen deutschen Pass haben. Das sind mehr als 14 Prozent der Bevölkerung. Viele von ihnen sind längst aktive Mitglieder der Gesellschaft und nicht mehr wegzudenken. Gleichzeitig bleibt vor Ort ein großes Potenzial ungenutzt: Sie alle können unser Land nicht richtig mitgestalten, obwohl sie hier schon so lange zuhause sind – weil sie nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Sie dürfen nicht wählen und nicht für öffentliche Ämter kandidieren. Mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechtes wollen wir das jetzt ändern und ihnen einen Weg zur vollständigen Teilhabe eröffnen.
Fraktion intern: Dass jahrzehntelang nicht offensiv vertreten wurde, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, hat auch zu Problemen geführt. Wie wollen Sie das ändern?
Nancy Faeser: Wer dauerhaft in Deutschland lebt und arbeitet, soll sich auch zugehörig fühlen können. Denn wer sich zugehörig fühlt, übernimmt Verantwortung und bringt sich vor Ort ein. Mit dem neuen Staatsbürgerschaftsrecht wollen wir deshalb ganz gezielt Anreize für Integration setzen: Wer ein qualifiziertes Aufenthaltsrecht hat, soll künftig schon nach fünf Jahren eingebürgert werden können. Wer besonders gut integriert ist, kann diesen Zeitraum auf drei Jahre verkürzen: zum Beispiel durch sehr gute Deutschkenntnisse, herausragende Leistungen in Schule oder Beruf oder ehrenamtliches Engagement. Das stärkt auch den Zusammenhalt vor Ort.
Fraktion intern: Wie sehr ist unser Wohlstand gefährdet, wenn wir es nicht schaffen, genügend Fachkräfte anzuziehen?
Nancy Faeser: Es ist nicht neu, dass wir in Deutschland Fachkräfte brauchen. Neu ist aber die Dringlichkeit, mit der wir uns darum kümmern müssen. Denn die Pandemie und der demografische Wandel haben deutliche Spuren auf unserem Arbeitsmarkt hinterlassen: Der Mangel an Fachkräften ist mittlerweile für uns alle spürbar: Wenn der Supermarkt früher schließt als gewöhnlich, wenn das kaputte Dach nicht sofort repariert werden kann, und – hier wird es wirklich gefährlich – wenn in Kliniken Personal fehlt, um Notfälle zu versorgen.
Der Fachkräftemangel schadet unserer Gesellschaft. Er gefährdet den Wohlstand in unserem Land. Und er bremst uns bei wichtigen Zukunftsthemen aus – etwa beim Klimaschutz. Allein für den Ausbau von Solar- und Windenergie fehlen im Moment über 200.000 Fachkräfte – vor allem Elektriker, Klimatechniker und Informatiker. Das darf nicht so bleiben. Und deshalb handelt diese Bundesregierung.
Fraktion intern: Die Wirtschaft sucht dringend Arbeitskräfte. Doch viele IT-Expert:innen, Ingenieur:innen und anderen Fachkräfte gehen lieber nach Kanada oder die USA. Was machen die besser oder anders?
Nancy Faeser: Hubertus Heil und ich waren gerade erst in Kanada und haben uns über die Einwanderungspolitik der kanadischen Regierung informiert. Kanada hat ein sehr modernes Einwanderungsrecht, von dem wir viel lernen können.
Wir werden in Kürze unseren Entwurf für das neue Gesetz zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung einbringen. In Zukunft werden wir Fachkräften auf drei Wegen die Einwanderung nach Deutschland ermöglichen: Nach wie vor führt der wichtigste Weg über eine staatlich anerkannte Qualifikation nach Deutschland. Wir wollen zusätzlich ermöglichen, auch jenseits der originären Ausbildung eine qualifizierte Tätigkeit in Deutschland auszuüben. Für Menschen ohne akademischen Abschluss, aber mit mindestens zweijähriger Berufserfahrung in einem im Herkunftsland staatlich anerkannten Beruf eröffnen wir einen neuen Weg der Einwanderung. Und schließlich wollen wir mit der neuen Chancenkarte Menschen mit Potenzial für Tätigkeiten in Deutschland gewinnen. Dafür nutzen wir ein Punktesystem, ähnlich wie es auch in Kanada Anwendung findet.
Fraktion intern: Werden mit diesen neuen Regeln genügend Leute kommen?
Nancy Faeser: Deutschland ist ein attraktives Land. Wir haben interessante Berufe, eine starke Wirtschaft. Bisher war die Einwanderung für viele Menschen sehr mühsam und mit vielen Hürden versehen. Mit dem neuen Gesetz zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung läuten wir auch hier einen Paradigmenwechsel ein, mit dem wir einerseits die Zuwanderung klar steuern und gleichzeitig Menschen mit wertvollen Potenzialen für uns gewinnen. Ich bin zuversichtlich, dass sich viele Fachkräfte davon angesprochen fühlen.
Fraktion intern: Kann man eine „Willkommenskultur“ verordnen bzw. per Gesetz schaffen? Müssen da nicht auch die Menschen mitspielen?
Nancy Faeser: Die Menschen in unserem Land zeigen jeden Tag, dass eine Willkommenskultur zu Deutschland dazu gehört und hier gelebt wird. Die muss man gar nicht verordnen, die ist bereits vorhanden. Aber wir haben auch noch einiges zu tun.
Fraktion intern: Es geht ja darum, dass wir die Zuwanderung insgesamt besser regeln. Mit Blick auf Geflüchtete liegt die Zuständigkeit in Brüssel. Denn wir haben in der EU gemeinsame Außengrenzen. Manche wollen mehr und neue Zäune, um illegale Einwanderung zu begrenzen. Ist das der richtige Weg?
„Es ist vor allem wichtig, legale Fluchtwege zu schaffen“
Nancy Faeser: Es ist vor allem wichtig, legale Fluchtwege zu schaffen. Voraussetzung dafür ist der Schutz der Außengrenzen und die Begrenzung irregulärer Migration. Deshalb mache ich so viel Druck, dass wir beim Gemeinsamen Europäischen Asylsystem vorankommen. Und dann braucht es Migrationsabkommen, wie wir sie beispielsweise mit Indien bereits abgeschlossen haben. Um dieses Thema beherzt und mit Priorität anzugehen, hat die Bundesregierung einen Sonderbevollmächtigten für Migrationsabkommen eingesetzt.
Fraktion intern: Viele flüchten weiterhin über das Mittelmeer und sterben. Wie kann man diese schreckliche Situation ändern?
Nancy Faeser: Dass Menschen im Mittelmeer ertrinken, ist unerträglich. Wir wollen mit legalen Fluchtwegen verhindern, dass Menschen sich überhaupt auf diese lebensgefährlichen Routen begeben müssen. Es ist unsere Pflicht als Europäer, Menschen nicht ertrinken zu lassen! Wir haben als Bundesregierung unsere Auffassung klargemacht, dass die zivile Seenotrettung nicht behindert werden darf und das schreckliche Sterben im Mittelmeer beendet werden muss. Für Menschen, die im Mittelmeer aus Seenot gerettet werden, muss schnellstmöglich ein sicherer Hafen zur Verfügung stehen und die Küstenstaaten müssen dabei ihrer Verantwortung nachkommen.
Fraktion intern: Die Geflüchteten sollen unter den EU-Staaten fairer verteilt werden.
Nancy Faeser: Ja, sollte es noch mal zu einer größeren Fluchtbewegung aus der Ukraine kommen, muss eine bessere und fairere Verteilung innerhalb der EU stattfinden. Dafür setze ich mich ein.
Fraktion intern: Was ist der Kern des Neustarts in der Migrationspolitik?
Nancy Faeser: Der Kern einer modernen Einwanderungspolitik ist Klarheit. Klare Chancen und klare Regeln. Alle, die neu zu uns kommen und alle, die schon hier sind, müssen wissen, woran sie sind: was sie erwarten können und was von ihnen erwartet wird. Das ist der Kern der Migrationspolitik dieser Regierungskoalition.