Welt am Sonntag: Herr Oppermann, wenn Sie im Urlaub am Strand von Wustrow spazieren gehen und die letzten Monate Parteiarbeit Revue passieren lassen, ist die Urlaubsstimmung schnell vorbei, oder?
Thomas Oppermann: So schnell lasse ich mich im Urlaub nicht aus der Ruhe bringen. Aber natürlich muss allen Beteiligten klar sein: Wer mitten in der Sommerpause, über zwei Jahre vor der Bundestagswahl, eine Debatte über den Kanzlerkandidaten der SPD eröffnet, betreibt Wahlkampf für Angela Merkel.
Es sieht aus, als kapituliere die SPD vor Merkel.
Nein. Dazu gibt es nicht den geringsten Grund.
Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Torsten Albig behauptet das öffentlich.
Das muss etwas mit dem Klimawandel zu tun haben, der inzwischen die SPD erreicht hat. Einigen scheint die Hitze zu Kopf gestiegen zu sein. Die gute Politik der Bundesregierung ist doch das Verdienst der SPD. Alles, was gemacht wurde, sind unsere Projekte und unsere Erfolge. Wir sollten gelassen und zuversichtlich unsere Arbeit fortsetzen. Die 460.000 SPD-Mitglieder und unsere zwölf Millionen Wähler wollen nicht, dass wir uns selbst zerfleischen. Statt uns in Schwarzseherei zu ergehen, müssen wir einfach unseren Job machen.
Trotzdem scheint Merkel nach bald zehn Jahren Kanzlerschaft für Ihre Partei unangreifbar zu sein.
Niemand ist unangreifbar, nicht einmal Frau Merkel. Sie arbeitet unaufgeregt. Das kann man von ihr lernen. In der Politik kommt es vor allem darauf an, Vertrauen zu erwerben, in langen Linien zu arbeiten, aber auch Haltung zu zeigen.
Merkel sitzt schon deutlich länger im Kanzleramt als Gerhard Schröder.
Es kommt nicht darauf an, wie lange man Kanzler ist. Es kommt darauf an, was man als Kanzler leistet. Gerhard Schröder war nur sieben Jahre im Amt. Kein anderer Kanzler musste in so kurzer Zeit so viele Probleme lösen. Zum Beispiel die Arbeitsmarktreformen, der Atomausstieg, der erste Auslandseinsatz der Bundeswehr, das Nein zum Irak-Krieg, die Gesetze zur Reform der Staatsangehörigkeit und die eingetragenen Lebenspartnerschaften.
Das klingt nach Sehnsucht nach den guten alten Zeiten.
Schröder war ein guter und tatkräftiger Kanzler, dem Deutschland viel verdankt. Ohne ihn stünde das Land heute weniger stark da. Allerdings muss die SPD die Wahl 2017 ohne ihn gewinnen.
Da hilft aber nur noch eine überraschende Personalie. Was spricht gegen eine Kanzlerkandidatin Andrea Nahles?
Meine Partei ist nicht gut beraten, jetzt über die Kanzlerkandidatur zu diskutieren. Deshalb beteilige ich mich daran nicht.
Aber will die SPD nicht auch einmal eine Frau für das mächtigste Amt im Staat nominieren?
Netter Versuch. Die nächste Frage bitte.
Kommt es denn zu einer Urwahl? Selbst Gabriel sympathisiert jetzt öffentlich mit dieser Idee.
Wir sind jetzt in der Mitte einer Legislaturperiode, die sehr erfolgreich verläuft. Daran müssen wir weiter arbeiten. Anfang 2017 ist es früh genug, Kandidatenfragen zu klären. Das Wahlprogramm sollten wir in so bewegten Zeiten erst drei Monate vor der Bundestagswahl beschließen.
Erfolgreich ist wohl das falsche Wort. Die Zustimmungswerte der SPD dümpeln bei unter 25 Prozent. "Die SPD hat sich in die Gefangenschaft der Union begeben", sagt Dietmar Bartsch von der Linken.
Dietmar Bartsch ist Gefangener der Opposition und von Frau Wagenknecht. Er hat nichts zu gestalten. Seine Partei lehnt Verantwortung ab. Er ist kein guter Ratgeber der Sozialdemokraten.
Um endlich aus dem Umfrageloch zu kommen, thematisiert Gabriel Patriotismus und innere Sicherheit. Verschreckt das nicht Ihre Stammklientel?
Die Menschen in Deutschland haben ein Bedürfnis nach internationaler und innerer Sicherheit. Das sollten wir stärker thematisieren. Wir müssen auch den Menschen gerecht werden, die Kriminalität und Gewalt fürchten oder sogar schon erleben mussten.
Der Satz könnte von der CSU stammen. Will die SPD ernsthaft Diebstahl und Wohnungseinbrüche bekämpfen?
Ja, klar! Was denn sonst? Und im Übrigen gehen wir in der Koalition längst gegen Einbrüche vor. Wir könnten noch mehr tun, wenn der Innenminister etwas mehr Ehrgeiz besäße.
Was heißt "mehr"?
In den deutschen Großstädten gibt es stark vernetzte Strukturen der organisierten Kriminalität. Clans, deren gesamtes Geschäftsmodell darauf beruht. Damit darf sich doch ein Innenminister nicht abfinden!
Tut er das denn?
Warum baut er nicht Personal auf, um diesen Verbrechern das Handwerk zu legen? Wenn diese Clans gute Anwälte haben, kann ihnen offensichtlich nichts passieren. Eine intensive Kooperation von Bundeskriminalamt, Bundespolizei und Landesbehörden ist überfällig. Herr de Maizière muss die organisierte Kriminalität stärker bekämpfen.
In Finanzfragen könnten Sie einfacher punkten als bei der Inneren Sicherheit. Aber Schäuble ist in der Griechenland-Krise der Akteur, nicht Gabriel. War es falsch, nach dem Wirtschafts- statt dem Finanzressort zu greifen?
Die Entscheidung ist anders gefallen. Ich finde, es gibt gute Argumente dafür, dass die SPD ihre Kompetenz im Wirtschaftsministerium beweist. Das gelingt Sigmar Gabriel eindrucksvoll.
Mit Iran-Reisen, Saudi-Arabien-Deals und der Eröffnung des Mammutprojekts Suezkanal kann man im linken Milieu wenig gewinnen.
Die Wirtschaftspolitik in Deutschland ist hervorragend. Die Wirtschaft wächst, der Arbeitsmarkt ist robust, der Haushalt ausgeglichen, und endlich wird in schnellere Netze investiert.
Ist das wirklich Gabriels Wachstum – oder nicht eher eine Folge der exportfördernden Euro-Schwäche?
Natürlich ist das sein Verdienst. Allein der Kraftakt, die Energiewende wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen, hat in der Wirtschaft große Anerkennung gefunden.
Für das Wachstum von morgen fehlen allerdings immer noch ausreichend Wagniskapital und Gründergeist- Kultur.
Stimmt. Ich war gerade ein paar Tage im Silicon Valley in Kalifornien. Dort habe ich mich mit deutschen Gründern getroffen, die in den USA Erfolg haben. Sie sagen: Europa hat gute Technologien, im digitalen Markt aber gibt es 28 europäische Länder mit unterschiedlichen Regeln. Für Start-ups ist es so unmöglich, die potenziell 500 Millionen Kunden in der EU zu erreichen. Dafür brauchen wir einen einheitlichen Markt.
Und in den USA darf man scheitern, in Deutschland nicht.
Das liegt an dem schier grenzenlosen Optimismus der Amerikaner. Wenn dort ein Start-up eine gute Idee hat, glauben daran nicht nur die Gründer, sondern auch die Geldgeber. Wenn das Projekt misslingt, wird der Gründer nicht als Bankrotteur abgestempelt. Sondern man vertraut ihm erneut, investiert Wagniskapital. Diese Kultur müssen wir auch bei uns fördern. Das stünde im Übrigen auch Wolfgang Schäuble gut zu Gesicht.
Zum American Spirit gehört die Überzeugung, ein Einwanderungsland zu sein. Wann stimmt die Union einem entsprechenden Gesetz zu?
Die Union fängt ja gerade an, sich zu bewegen. Endlich! Wir können von Einwanderern viel mehr profitieren als bisher. Junge Menschen mit einer ordentlichen Ausbildung, mit Sprachkenntnissen tun diesem Land gut. Nicht nur das Handwerk wartet darauf.
Bis es so weit ist, wirkt Deutschland in der Flüchtlingsfrage ziemlich hilflos.
Finden Sie? Angesichts von voraussichtlich über 500.000 Flüchtlingen in diesem Jahr ist unsere Gesellschaft nicht hilflos, sondern tatkräftig. Sehr viele Menschen packen an. Ich bin stolz auf die Welle der Hilfsbereitschaft, die wir in Deutschland gerade erleben. Diese Hilfsbereitschaft müssen wir erhalten. Der Bund hilft deshalb den Kommunen.
Das reden Sie jetzt arg schön. Symbolisiert die überfüllte Turnhalle nicht für jeden sichtbar den überforderten Staat?
Leider gilt: Niemand baut Flüchtlingsheime, bevor Flüchtlinge da sind.
Aber man wusste doch schon längst, dass sie kommen. Da hätte man besser vorbereitet sein können.
Die Kommunen haben bereits zu Jahresanfang die Flüchtlingsprognosen angezweifelt. Der Bund hat leider zu spät reagiert. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat 2000 neue Stellen, aber Probleme, geeignete Mitarbeiter zu finden. Deshalb brauchen wir kreative Zwischenlösungen. Hannelore Kraft in NRW bemüht sich, ehemalige Beamte zu reaktivieren. Das könnte der Bund auch tun. Diese Menschen sind von heute auf morgen einsatzfähig und könnten für ein paar Monate helfen, die Asylverfahren zu beschleunigen.
Kann Deutschland dauerhaft eine halbe Million Flüchtlinge pro Jahr aufnehmen?
Wenn weltweit 60 Millionen Menschen auf der Flucht sind und vor Krieg und Folter Schutz suchen, dann müssen wir in dieser Ausnahmesituation in der Lage sein, 500.000 Menschen im Jahr aufzunehmen.
Was muss der Bund den Kommunen zahlen?
Die Soforthilfe von einer Milliarde Euro in diesem Jahr war gut. Zum 1. Januar 2016 brauchen wir eine Verstetigung. Der Bund sollte sich auf mindestens zwei Milliarden Euro für Kommunen pro Jahr einstellen.
Wann wird es weitere sichere Herkunftsstaaten auf dem Balkan geben?
Wir sprechen gerade über Albanien, Kosovo und Montenegro. Sie sind im Vergleich mit Syrien und Irak, Sudan und Eritrea sehr sichere Länder. Darüber kann man reden, meine ich. Viele Balkan-Flüchtlinge wollen vor allem Arbeit in Deutschland. Bei uns gibt es Schutz vor Krieg und Verfolgung, nicht aber einen Anspruch auf Arbeits-Migration.
Und wenn gar nichts mehr hilft, dann führen wir in Europa wieder Grenzkontrollen ein?
Das wäre die schlechteste aller Lösungen und ein schwerer Rückschlag für ganz Europa. Dass aber Großbritannien, Polen und andere Länder keine Flüchtlinge aufnehmen, ist unhaltbar.
Ein weiterer Beleg dafür, dass der Höhepunkt der europäischen Integration hinter uns liegt.
Nein. Die Griechenland-Krise zeigt uns: Das wirtschaftliche Gefälle war keine gute Grundlage für den Euro. Heute wissen wir, dass wir die Euro-Zone weiterentwickeln und stärken müssen. Dazu gehört auch eine europäische Wirtschafts- und Finanzregierung.
Ist der Grexit noch eine Option?
Die griechische Regierung scheint endlich bereit, die notwendigen Reformen einzuleiten. Insofern: nein.
Hat Schäubles Grexit-Option das Bild vom hässlichen Deutschen neu belebt?
Wolfgang Schäuble hat die Griechen kompromisslos mit der ökonomischen Realität konfrontiert. Damit hat er dort keine Freunde gefunden. Die Schmähkritik an ihm ist unerträglich. Es wäre aber besser gewesen, hätte Schäuble den Grexit nur als Option dargestellt für den Fall, dass die griechische Regierung das selbst will. Das hat er versäumt.
65 Unions-Abgeordnete und vier SPD-Abgeordnete haben den Verhandlungen mit Athen nicht zugestimmt. Wird die SPD am Mittwoch im Bundestag wieder der Ausputzer von Schäubles Krisenpolitik sein?
Wir wissen um den Wert Europas für alle und für uns. Wir verdanken unseren Wohlstand der EU. Kein anderes Land profitiert vom Euro so sehr wie wir. Mit der D-Mark ginge es uns heute ziemlich dreckig. Die Exporte wären teuer, Hunderttausende Jobs stünden auf der Kippe. Die SPD wird niemals leichtfertig Europa aufs Spiel setzen.
Glauben Sie wirklich, dass die Griechen die Reformen umsetzen?
Ja. Aber ich setze dabei nicht auf die politischen und ökonomischen Eliten, die das Land an den Abgrund geführt haben. Ich setze auf die jungen Griechen, die den Klientelismus überwinden wollen, die andere Länder kennen, die Griechenland besser machen wollen. Das jüngste Verhandlungsergebnis ist ordentlich. Ich rechne mit einer breiten Mehrheit im Bundestag.
Sie hätten ja in diesem Sommer gleich damit anfangen können. Warum verbringen Sie Ihren Urlaub nicht in Griechenland?
Ich war schon oft dort. Besonders genieße ich Wanderungen in der einsamen Berglandschaft von West-Kreta. Griechenland ist immer eine Reise wert.