Die Debatte über Organtransplantationen ist nach Deutschland zurückgekehrt. Und das ist gut so: denn jedes Jahr sterben in unserem Land etwa tausend Menschen, die leben könnten, wenn ein Spenderorgan zur Verfügung gestanden hätte. Die Zahl der Patienten auf der Warteliste übersteigt die Zahl der Organspenden jedes Jahr deutlich.Europaweit liegt Deutschland mit der Zahl postmortal gespendeter Organe im unteren Mittelfeld (in 2010 wurden 15,9 Organe pro 1 Millionen Einwohner gespendet ). Andere europäische Länder, allen voran Spanien, kommen auf weitaus höhere Zahlen. Zu Recht fordern Ärzte und Betroffene daher eine Reform des Transplantationssystems in der Bundesrepublik.
Für mich selbst bekamen diese Zahlen und Fakten vor einem Jahr eine ganz neue Dimension – obwohl ich mich schon seit vielen Jahren immer wieder in verschiedenen Funktionen, privat wie politisch, mit der Organspende auseinandergesetzt habe. Und doch rücken uns manche Themen manchmal auf ganz andere Art näher. Seit im vergangenen Herbst durch die Zeitungen ging, dass ich selbst meiner Ehefrau eine Niere spenden würde, erreichten mich tausende Emails und Briefe von Betroffenen. Von Patienten, die seit Jahren auf eine Organspende warten. Von Angehörigen, die einen geliebten Menschen verloren haben, dem nicht rechtzeitig geholfen werden konnte. Von dankbaren Menschen, denen durch eine Organspende ein zweites Leben geschenkt wurde.
Diese Erfahrungen haben mir noch einmal ganz besonders deutlich gemacht: die Politik ist gefordert zu handeln. Das Beispiel Spanien hat gezeigt, dass funktionierende organisatorische Abläufe und sinnvolle gesetzliche Rahmenbedingungen erheblich dazu beitragen, das Organspendeaufkommen zu erhöhen. So gilt in Spanien die Widerspruchslösung, während in Deutschland nur denjenigen Verstorbenen Organe entnommen werden dürfen, die zu Lebzeiten aktiv zugestimmt haben – oder deren Verwandten nach dem Versterben in eine Organentnahme einwilligen (erweiterte Zustimmungslösung).
Es liegt also auf der Hand: das geltende Transplantationsgesetz von 1997 muss dringend geändert und die Regelungen zur Organspende müssen angepasst werden. Viele Ärzte sprechen sich in diesem Zusammenhang für die Einführung einer Widerspruchslösung aus, da diese verspricht, die Organspendezahlen schnell zu erhöhen. Aus medizinischer und technischer Sicht ist diese Forderung verständlich – für einen Politiker liegen die Dinge jedoch etwas komplizierter.
Als wir 1997 über das Transplantationsgesetz diskutierten, schürte diese Debatte bei vielen Menschen Ängste und Unsicherheiten. Diese drehten sich vor allem um den Hirntod als Kriterium der Todesfestellung. Wir wissen, dass viele Menschen Ängste und Sorgen haben: bin ich denn auch wirklich tot, wenn mir Organe entnommen werden? Wird für mein Weiterleben noch alles getan, wenn ich als Spender infrage komme? Als Ergebnis dieser hitzigen Debatten war es am Ende nicht mehr möglich, mehr als den Minimalkonsens „Zustimmungslösung“ durchzusetzen.
Diesen Fehler dürfen wir nicht noch einmal wiederholen. Ich nehme die Ängste der Menschen ernst, und ich akzeptiere, dass es Menschen gibt, die sich aus persönlichen, ethischen oder religiösen Gründen gegen eine Organspende entscheiden. Die Organspende muss eine autonome Entscheidung des Einzelnen bleiben, und kann nicht per Gesetz verordnet werden.
Trotzdem darf die Politik vor diesen Ängsten nicht kapitulieren. Wir müssen offensiv um Akzeptanz bei den Bürgern werben. Wir müssen deutlich machen: mit Transplantationen wird Leid gemindert. Und deshalb finde ich, unsere Gesellschaft kann schon von jedem Einzelnen verlangen, sich mit diesem Thema zumindest auseinanderzusetzen. Organspende ist ein Zeichen gelebter Solidarität – und Hilfe für diejenigen, denen anders nicht geholfen werden kann!
Ich werbe daher für einen Vorschlag, den ich „Entscheidungslösung“ genannt habe. Danach wird nicht jeder Mensch automatisch zum Organspender. Aber wir bitten die Menschen, sich mindestens einmal im Leben für oder gegen die Bereitschaft zur Organspende zu entscheiden. Wichtig ist, dass ihre Entscheidung dann dokumentiert wird, etwa in der Krankenkassenkarte. Damit entlasten wir übrigens auch die Angehörigen, die in einer ohnehin schon schwierigen Situation nicht auch noch über den möglichen Spendewillen des Verstorbenen rätseln müssen!
Dieser Meinung sind mit mir auch die Vorsitzenden aller anderen Fraktionen im Deutschen Bundestag. Gemeinsam arbeiten wir an einem überparteilichen Entwurf zur Änderung des Transplantationsgesetzes. Das Thema ist zu wichtig, um im kleinlichen Parteienstreit unterzugehen.
Es ist vielleicht nicht die Maximallösung, die viele Ärzte wünschen. Sie haben die Patienten jeden Tag vor sich, denen sie mit einer Organtransplantation helfen könnten, und verzweifeln verständlicherweise an den zu geringen Spenderzahlen.
Ich bin aber überzeugt, dass die „Entscheidungslösung“ eine gute Lösung ist. Sie sorgt für Akzeptanz, und mindert gleichzeitig das Leid Betroffener. 70-80 Prozent der Deutschen sagen in Umfragen, dass sie dazu bereit seien, nach dem Tod ihre Organe zu spenden – aber nur 15 Prozent besitzen tatsächlich einen Organspendeausweis. Diese große Kluft müssen wir dringend verkleinern, und die Entscheidungslösung wird uns dabei helfen.