Peer Steinbrück (SPD):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, je länger ich Ihnen zuhörte, desto mehr erinnerte ich mich an einen großen Sozialdemokraten; es handelt sich um Fritz Erler. Er hatte dieselbe Aufgabe wie ich, nämlich seinerzeit auf die Regierungserklärung von Ludwig Erhard zu antworten.

(Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Wir alle kennen noch Erhard!)

Fritz Erler sagte in seiner Rede sinngemäß den Satz: Ihre Rede, Herr Bundeskanzlers, war sehr reziplikativ.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Unruhe)

Daraufhin gab es eine ähnliche Unruhe wie jetzt, weil sich alle fragten: Was heißt „reziplikativ“ eigentlich?

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Daraufhin sagte Fritz Erler: „Das heißt gar nichts; das spricht sich nur so schön.“

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heiterkeit bei der LINKEN)

So ist das auch mit Ihren Regierungserklärungen:

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Mannomannomann!)

Abgesehen vom aktuellen Hintergrund jüngster Regierungskonferenzen und bevorstehender Konferenzen hat man den Eindruck, dass man diese Regierungserklärung schon drei-, viermal gehört hat.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der SPD: Mindestens! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Du warst nicht so oft da!)

Das ist auch der Grund dafür, dass die Hälfte der Regierungsbank absolut überwältigt ist, allerdings vom Schlafbedürfnis; das sieht man denen an.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe eigentlich erwartet, dass an irgendeiner Stelle in dieser Regierungserklärung der Satz kommt: Eine gute Grundlage ist die beste Voraussetzung für eine solide Basis in Europa, meine Damen und Herren.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deutschland und Europa, Frau Merkel, brauchen keine Stehsätze.

(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das ist doch gar nichts! Nichts ist das!)

Sie brauchen keine politischen Ansagen, die erkennbar in einem so großen Widerspruch zu den Fakten und Problemen in Europa stehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Arbeitslosigkeit in Europa hat sich durch das maßgeblich von Ihnen zu vertretende Sparprogramm auf 26 Millionen Menschen erhöht. Die Jugendarbeitslosigkeit in Europa ist bei den unter 25-Jährigen auf fast 6 Millionen gestiegen. Gab es vor Ausbruch der Finanzkrise in Europa in keinem einzigen europäischen Land eine Jugendarbeitslosigkeit, die über 25 Prozent lag, gibt es jetzt in 12 von noch 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine Jugendarbeitslosigkeit bei den unter 25-Jährigen, die über 25 Prozent – teilweise über 50 Prozent – liegt.

Statt die Schulden zu senken – mit diesem Vorsatz treten Sie ja an –, haben die europäischen Länder im letzten Jahr, in 2012, 500 Milliarden Euro zusätzliche Schulden gemacht. Der Teufelskreis von Sparen, Wachstumseinbrüchen, höherer Arbeitslosigkeit, höherer Jugendarbeitslosigkeit und größeren Schwierigkeiten, die Defizite zu finanzieren, weil die Einnahmen einbrechen, ist ungebrochen. Und darüber verlieren Sie in der heutigen Regierungserklärung keinen einzigen Satz!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt ein krasses Missverhältnis zwischen den deutschen Rekordzahlungsbilanzüberschüssen von inzwischen fast 7 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts und den Zahlungsbilanzdefiziten unserer Nachbarländer, was irrsinnige Turbulenzen auslöst. Das ist ein riesiges Problem, aber darüber habe ich Sie noch nie reden hören. Dabei gibt es doch ein Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, das im magischen Viereck auch außenwirtschaftliches Gleichgewicht fordert. Warum gehen Sie auf diese Pro-blematik, die eine der zentralen Ursachen für die Krise in Europa ist, nicht ein?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Jugendarbeitslosigkeit, von der Sie hier reden, und die hohe Arbeitslosigkeit insgesamt, Frau Bundeskanzler, sind eine direkte Folge der völlig einseitigen Sparpolitik, die Sie in Europa maßgeblich betrieben haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)

Wachstum und Haushaltskonsolidierung bedingen einander, haben Sie gesagt. Ja, aber warum haben sich dann die Beratungen im Europäischen Rat zum überwiegenden Teil auf Sparprogramme konzentriert und nicht auf die Wachstumsimpulse?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Warum haben Sie immer mitgemacht?)

Wir wollen die Umsetzung des Paktes für Wachstum und Beschäftigung überprüfen, sagen Sie. Donnerwetter! Aber da gibt es nicht viel zu überprüfen. Die Kritik der Europäischen Kommission weist aus, dass seit dem vom Europäischen Rat im Juni 2012 verkündeten Wachstumspakt zu wenig geschehen ist. Wir kennen also bereits das Ergebnis dieser Überprüfung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Bundesregierung unterstützt das Ziel der Jugendbeschäftigungsgarantie, heißt es ferner bei Ihnen. Das ist doch eine Floskel! Womit denn? Wie? Mit den 6 Milliarden im europäischen Haushalt bis 2020? Oder mit Vorschlägen, die erst in einigen Jahren greifen können? Oder mit dem Hinweis auf das bewährte und wirklich wichtige deutsche duale Ausbildungssystem? Das lässt sich in unseren europäischen Nachbarstaaten doch nicht in einem Urknall realisieren.

Oder auf dem nächsten Gipfel der EU-Arbeitsminister am 3. Juli, wenige Tage nach dem Europäischen Rat? Die Erklärung dieses Gipfels dürfte mit den Erklärungen dieses Europäischen Rates ziemlich identisch sein. Die Schlussfolgerungen dürften sich kaum unterscheiden. Ist das dann der 46. folgenlose Gipfel, den Sie veranstalten?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Mit Blick auf den 3. Juli bitte ich Sie, Frau Merkel: Vermeiden Sie eine weitere Show, die Erwartungen auslöst, die dann unerfüllt bleiben. Denn damit sorgen Sie dafür, dass sich Millionen junger Bürgerinnen und Bürger in Europa von der Politik und auch von Europa entfremden. Was Sie dort beraten, muss schon sehr konkret sein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der luxemburgische Arbeitsminister Schmit trifft in meinen Augen den Nagel auf den Kopf, wenn er sagt, die einzige Lösung sei, dass die Europäische Union endlich Geld zur Förderung von Wachstum in die Hand nehme und ihre Sparpolitik überdenke. Das ist die Antwort eines Arbeitsministers, der Sie besuchen wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich füge im Übrigen hinzu: Die perspektivisch bis 2020 vorgesehenen 6 Milliarden Euro als Sofortprogramm gegen die Jugendarbeitslosigkeit sind ein Tropfen auf den heißen Stein. Erforderlich wären in meinen Augen mindestens 20 Milliarden Euro, und zwar konzentriert auf die nächsten beiden Jahre.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Erforderlich wird es sein, alle Mittel, die noch in europäischen Fonds sind, zu bündeln und der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit zuzuführen. Soweit Mittel nicht abgerufen werden, sollten sie nicht an die Länder zurücküberwiesen werden, sondern ganz gezielt in die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit gesteckt werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Sie einen Gipfel zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in Europa vom Verdacht des Populismus und auch des hektischen Stillstandes freihalten wollen, dann trommeln Sie doch die Unternehmen, die Gewerkschaften und die Mitgliedstaaten zusammen und verabreden mit ihnen bindend, in den nächsten drei Jahren 500 000 Arbeits- und Ausbildungsplätze für die Jugendlichen zu schaffen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sammeln Sie deutsche Unternehmen, die Standorte in mediterranen Nachbarstaaten haben, und verabreden Sie mit diesen deutschen Unternehmen, dass sie an diesen ausländischen Standorten bindende Verpflichtungen eingehen, um junge Spanier, junge Griechen, junge Italiener zu beschäftigen!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])

Das wäre ein bemerkenswerter Beitrag. Das würde das in manchen europäischen Nachbarländern beschädigte Ansehen Deutschlands auch wieder etwas auffrischen,

(Widerspruch bei der FDP)

und vor allen Dingen würde es auch im Interesse unserer deutschen Exportindustrie sein.

Unter dem deutschen Druck ist Europa bienenfleißig gewesen, bienenfleißig klare, konkrete Festlegungen zu Zielen und Zeitplänen von Sparprogrammen in Gang zu setzen. Die europäischen Banken sind mit sage und schreibe 1,2 Billionen Euro staatlicher Unterstützung stabilisiert worden, was übrigens ein wesentlicher Grund für die Staatsverschuldung in manchen Ländern ist, und nicht etwa ihr Fehlwirtschaften.

(Beifall bei der SPD)

Aber dieser Bienenfleiß, bezogen auf Sparprogramme, bezogen auf Konsolidierung, steht in einem diametralen Gegensatz zu der Bereitschaft und Fähigkeit, entsprechende Präzision auch bei Wachstumsimpulsen in Europa zu entwickeln.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])

Im Übrigen, Frau Bundeskanzlerin: Wie wirkt es eigentlich auf unsere Partner und auf unsere Nachbarländer, die unter erheblichem Konsolidierungsdruck stehen und denen wir nicht nur Maßhalteappelle entgegenschallen lassen, sondern auch Zwangsjacken verpassen, wenn Sie im Wahlprogramm der CDU/CSU unfinanzierte Wahlgeschenke in der Größenordnung von 50 Milliarden Euro in den Bundestagswahlkampf einführen wollen?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Welches Bild geben wir denn da in Europa ab? Erklären Sie das einmal den Griechen, den Spaniern, den Italienern, den Portugiesen! Hier haben Sie die Spendierhosen an und geben uns keinerlei Hinweis darauf, wie Sie all diese Wahlgeschenke finanzieren wollen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Doch!)

Während Sie dort eisernes Sparen fordern, schöpft Ihre Regierung hier gleichzeitig aus dem Vollen. Trotz sprudelnder Einnahmen, trotz sprudelnder Steuereinnahmen,

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wollen Sie noch mehr Steuern einnehmen?)

trotz deutlicher Entlastungen auf dem Arbeitsmarkt und eines enormen Zinsvorteils, der Herrn Schäuble in die Lage versetzt, deutsche Staatsanleihen mit einer gewissen Laufzeit zu einem Realzins von nahezu null zu platzieren, hat diese Ihre Regierung in dieser Legislaturperiode 100 Milliarden Euro neue Schulden gemacht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)

– Ja, werden Sie noch nervöser; das würde mich freuen, denn dann hätte ich Trefferwirkung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Rainer Stinner [FDP]: Treffer!)

Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben einen Satz gesagt, der voll zutrifft: Das ist uns in dieser Legislaturperiode gelungen, und das wird uns auch in der nächsten Legislaturperiode gelingen. – Donnerwetter! Das heißt, auch in der nächsten Legislaturperiode wird es Ihnen gelingen, 100 Milliarden Euro neue, zusätzliche Schulden zu machen.

Im Übrigen ist das noch viel schlimmer. Die gesamtstaatliche Schuld in Deutschland ist in dieser Legislaturperiode von Schwarz-Gelb um 400 Milliarden Euro gestiegen.

(Zuruf von der FDP: Gesamtstaatlich? – Weiterer Zuruf von der FDP: NRW!)

Der Punkt ist einfach: Sie können nicht mit Geld umgehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Ja, genau so ist das. Sie können nicht mit Geld umgehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: WestLB!)

Wenn Sie in der Wüste regieren, wird der Sand knapp. So ist das.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heiterkeit bei der LINKEN)

Was wir unseren Nachbarn abverlangen, meine Damen und Herren, würden wir in Deutschland übrigens unter keinen Umständen akzeptieren. Das, was wir unseren Nachbarn an Sparmaßnahmen abverlangen, würde hier in Deutschland zu Protesten führen, die die Straßen füllen würden; denn wenn wir in Deutschland so sparen müssten, wie wir das den Griechen abverlangen, dann hätten wir allein 2012 im Bundeshaushalt bzw. über alle vier öffentlichen Haushalte – Bund, Länder, Kommunen und Sozialversicherungen – 172 Milliarden Euro einsparen müssen. Das machen wir aber mit anderen Ländern. Ich sage dies, um einmal die Dimensionen deutlich zu machen, wenn wir manchmal etwas abfällig über die Anstrengungen in den anderen Ländern reden und den pädagogischen Zeigefinger zu hoch heben.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Dazu haben Sie gar keinen Grund! Denken Sie an Ihr Wort von der Kavallerie!)

Im Übrigen sei daran erinnert, Herr Kauder: Auch wir Deutschen waren einmal am Boden; auch wir Deutschen waren einmal diejenigen, die der Hilfe bedurften. Nach dem Zweiten Weltkrieg – –

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Bei Rot-Grün!)

– Mein Gott, Sie leben doch von der Rendite, die wir erwirtschaftet haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Volker Kauder [CDU/CSU]: Da muss er selber lachen!)

Nennen Sie mir ein einziges Reformprogramm in dieser Legislaturperiode, das historischen Bestand haben wird. Pflegereform nichts, Rentenreform nichts, Bundeswehrreform nichts, Steuerreform nichts – nichts ist da vorzuweisen. Nichts! Das sind alles leere Schachteln, die Sie hierhingestellt haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sind die größte Schachtel!)

Da ist nichts drin. Wenn man in die Schachteln reinguckt, stellt man fest, dass da nur ein Haufen Luft drin ist.

Ernsthaft gesprochen: Auch wir Deutschen waren einmal am Boden.

(Lachen bei der FDP)

– Mein Gott, wenn Sie so leicht zu belustigen sind, fällt es mir leicht, das fortzuführen.

(Zurufe von der FDP)

Damals, nach dem Zweiten Weltkrieg, haben wir von unseren europäischen Nachbarn Hilfe empfangen, insbesondere von den Amerikanern, aber auch von den Franzosen. Frankreich musste für die 1951 gegründete Montanunion souveräne Rechte an Deutschland abtreten. Sieben Jahre nach Ende der Besetzung, nach Ende der Okkupation Frankreichs, 1951, stimmte das französische Parlament dem Abtreten souveräner Rechte an Deutschland zur Bildung der Montanunion zu,

(Ulla Burchardt [SPD]: Das wissen die doch gar nicht! – Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Die sind doch alle ahistorisch da!)

und zwar trotz und gegen die Stimmung im französischen Volk; aber es wurde gemacht – von klugen Staatsmännern. Das war Führung, Frau Bundeskanzlerin, in einer Situation, in der wir das brauchten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ihnen fehlt – das mache ich Ihnen zum Vorwurf – das historische Bewusstsein für Europa.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben keine Idee von Europa. Sie haben keine Strategie, sondern Sie wurschteln sich von einem Europäischen Rat zum anderen durch. Ich sage sehr bewusst: Das Erbe von Helmut Kohl ist bei Ihnen nicht gut aufgehoben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Thomas Oppermann [SPD]: Das tut weh!)

Das Thema Bankenunion wird auf dem Europäischen Rat auch erörtert, wie ich annehme, insbesondere nach den Ergebnissen der nächtlichen Ecofin-Sitzung. Die Haftungskaskade, die dabei festgelegt worden ist – von den Aktionären über die Gläubiger bis hin zu den großen Anlegern –, hat die SPD immer für richtig erachtet. Das haben wir immer vertreten, sogar schon vor Ihnen.

(Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Stimmen Sie jetzt zu?)

– Darauf komme ich jetzt zu sprechen, Herr Schäuble. – Der Punkt ist, dass Sie, Frau Merkel, gegen den Willen der eigenen Fraktion, der eigenen Koalition in der Sitzung des Europäischen Rates Ende Juni 2012, also vor einem Jahr, einer Direktkapitalisierung von Banken aus dem ESM grundsätzlich zugestimmt haben. Das ist nach wie vor, auch nach den Ergebnissen dieses Ecofin, nicht ausgeschlossen. Das heißt, es könnte sein, dass eine gewisse Summe des ESM für die Direktkapitalisierung von Banken zur Verfügung gestellt werden muss, womit der Steuerzahler in Europa wieder in Haftung tritt und nicht diejenigen, die als Eigentümer, als Gläubiger dieser Banken verantwortlich gemacht werden müssen. Für diesen Punkt werden Sie die Zustimmung der SPD nicht bekommen.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Sie haben durch Ihre grundsätzliche Zustimmung – ich betone: „grundsätzliche“, weil ich weiß, dass das an Kautelen gebunden ist – zur Direktkapitalisierung von europäischen Banken damals, im Juni 2012, Ihre Kollegen Regierungs- und Staatschefs in der Überzeugung in die Hauptstädte zurückreisen lassen, dass die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland bereit ist, für die auflösenden Bedingungen zu sorgen, also eine Bankenunion herzustellen. Diese Staats- und Regierungschefs machen im Augenblick die Erfahrung, dass Sie die Realisierung dieser Bankenunion aufschieben,

(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Verschleppen!)

damit es zu dieser auflösenden Bedingung nicht kommt. Sie werden das zumindest bis zum 22. September 2013 verschieben. Dann werden Sie dem Publikum hier und woanders die Rechnung präsentieren. Präsentieren Sie die Rechnung jetzt und nicht erst nach dem 22. September!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine Partei will europaweit eine substanzielle Beteiligung der Verursacher an den Kosten der Krise. Um es noch einmal sehr deutlich zu sagen: Wir wollen so schnell wie möglich eine schlagkräftige Bankenunion mit einer europäischen Bankenaufsicht und einem europäischen Abwicklungs- und Restrukturierungsregime, mit einer europäischen Abwicklungsbehörde. Wir wollen die private Haftung durch Eigentümer und Gläubiger, und wir wollen einen bankenfinanzierten europäischen Restrukturierungsfonds. Wir wollen nicht, dass hierfür Steuergelder in Anspruch genommen werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Im Übrigen: Wie sieht die Beteiligung der Verursacher in Deutschland bisher eigentlich aus? Allein für die direkte Eigenkapitalhilfe musste Deutschland, musste der deutsche Steuerzahler in der Krise 50 Milliarden Euro an seine Banken zahlen. Was haben umgekehrt bisher die Banken als Bankenabgabe gezahlt? 500 bis 600 Millionen Euro jährlich, also ein Hundertstel der direkt vom Steuerzahler mitfinanzierten Rettungspakete. Das ist keine Beteiligung der Verursacher an den Kosten der Krise. Auch deshalb ist es notwendig, so schnell wie möglich eine Finanzmarkttransaktionsteuer in Europa einzuführen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])

Es ist übrigens mehr als eine Fußnote, mehr als ein schlechter Witz, dass manche Banken, die mithilfe der Steuerzahler gerettet worden sind, anschließend, wenn diese Steuerzahler einmal ihr Konto überziehen, Dispozinsen verlangen, die unverhältnismäßig hoch sind. Dagegen hätten Sie längst etwas unternehmen müssen in Deutschland, damit dieses Gebaren bei der Überziehung von Konten mit Dispozinsen, die teilweise 10, 11 oder 12 Prozentpunkte über dem Leitzins sind, unterbunden wird. Warum haben Sie da bisher nichts unternommen?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])

Präsident Obama hat in seiner Rede vor dem Brandenburger Tor von „peace with justice“ gesprochen, also von Frieden durch Gerechtigkeit. Das gilt auch für Europa. Hohe Arbeitslosigkeit, zunehmende Verarmung, Perspektivlosigkeit einer ganzen jungen Generation – dies gefährdet den inneren und auch den äußeren Frieden in Europa. Will sagen: Mit dieser diplomatisch verklausulierten Formel hat Präsident Obama uns auch die Leviten gelesen für das bisherige Krisenmanagement in Europa, und dies ist maßgeblich Ihr Krisenmanagement.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die heutige Politikergeneration hat die historische Verantwortung dafür, dass Europa nicht auseinanderbricht, dass Europa nicht erodiert, dass die alten Grenzen nicht wieder schmerzvoll spürbar werden, dass die Jugend wieder eine Perspektive bekommt und dass nicht die Steuerzahler, nicht die Sparer die Haftenden in letzter Instanz sind.

Die Krise in Europa ist auch eine Krise der europäischen Institutionen. Das haben gestandene Staatsmänner wie Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt jüngst übereinstimmend festgestellt. Will sagen: Von den nächtlichen Pokerrunden des Europäischen Rates kamen bisher keine durchschlagenden Impulse, um die nach wie vor äußerst fragile Situation in Europa zu bewältigen.

Wir brauchen daher, wie ich glaube, eine neue Europabewegung. Wir brauchen eine neue Idee von Europa, die den europäischen Institutionen auch einen Schub gibt, sich zu reformieren, und weiterführende Initiativen legitimiert. Deshalb sage ich mit Blick auf dieses Europa, in dem Deutschland allein seine Zukunft haben wird: Wir müssen auch in Europa mehr Demokratie wagen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Von dieser Bundesregierung haben wir nichts mehr zu erwarten. Sie bringt seit langem nichts mehr zustande. Es ist Zeit für einen Wechsel.
Vielen Dank.

(Langanhaltender Beifall bei der SPD – Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Der Satz „Es ist Zeit für einen Wechsel“ könnte von Gabriel auf Sie gemünzt stammen!)