Die Wahrscheinlichkeit für einen heute 50-Jährigen, dass weder er selbst, seine Partnerin oder seine Eltern an Krebs erkranken, liegt statistisch unter zehn Prozent. Die Generationen davor sind oft an anderen Erkrankungen gestorben, und die Kinder der Babyboomer werden wahrscheinlich die ersten sein, die fast alle geheilt werden können. Die Babyboomer selbst entschlüsseln im Moment die faszinierend logischen, aber tödlichen Gesetze der Krankheit. Sie werden aber oft noch nicht durch diese Erkenntnisse gerettet werden können. Sie sind eine Sandwich-Generation. Krebs wird ihre Epidemie sein.
In den letzten zehn Jahren sind neue Medikamente gegen Krebs entwickelt worden, die man gezielte oder personalisierte Therapie nennt. Chemotherapie greift gesunde wie kranke Zellen an, diese Medikamente nur die für bösartiges Wachstum notwendige interne Kommunikation der Krebszelle oder die Kommunikation mit dem Immunsystem. Die Medikamente - Antikörper, Tyrosinkinaseinhibitoren und Checkpoint-Inhibitoren - kosten zwischen 50.000 und 150.000 Euro pro Jahr. Bisher sind nur wenige in Deutschland auf dem Markt für eine kleine Minderheit der Krebspatienten. Schon für 2017 sind in den USA 120 (!) weitere Medikamente in der letzten Phase der klinischen Prüfung, und es werden noch viel mehr werden. Bei den Pharmakonzernen herrscht gerade Goldgräberstimmung, die Krebsmedikamente treiben die Aktienkurse der Firmen in die Höhe und selbst mit einem Medikament für seltene Krebserkrankungen werden Milliardengewinne gemacht. Es ist der mit Abstand lukrativste Markt für die gesamte Branche mit Gewinnspannen zwischen 25 und 50 Prozent.
Mit innovativer Medizin hohe Umsätze zu machen kann zwar nicht kritisiert werden, weil es ein Wachstumsmarkt in einer alternden Gesellschaft ist und es erste Erfolge gegen eine bisher unheilbare Krankheit gibt. Trotzdem stehen die Konzerne der Krebsindustrie derzeit massiv in der Kritik, insbesondere von führenden Krebsärzten und Wissenschaftlern, die diese Medikamente einsetzen und zum Teil sogar entwickelt haben.
Man muss den Pharmafirmen fünf Vorwürfe machen:
1. Die hohen Preise haben nichts mit dem tatsächlichen Nutzen der Medikamente zu tun. Im Durchschnitt verlängern sie das Leben der Patienten nur um wenige Monate. Wenige Ausnahmen wie Imantinib (Glivec) bei der Chronischen Myeloischen Leukämie ändern das nicht. Zu Heilungen kommt es fast nie, weil sich gegen diese Medikamente in der Regel nach kurzer Zeit Resistenzen bilden, der Tumor kommt dann oft umso stärker zurück. Durch aggressives Marketing und darauf zugeschnittene Studien wird der Nutzen der Medikamente durch Ärzte und durch Patienten systematisch überschätzt, es werden unrealistische Hoffnungen geweckt.
2. Die hohen Preise resultieren nicht aus den Forschungskosten. Die Pharmaindustrie argumentiert in der Politik mit Forschungskosten pro Medikament von mehr als einer Milliarde Dollar, so auch die Lobbyisten in Berlin bei Mitgliedern des Bundestages. Die tatsächlichen Forschungskosten liegen nur zwischen 100 und 200 Millionen Dollar pro Medikament, was in den ersten Wochen nach der Marktzulassung schon eingespielt ist.
3. Die Konzerne missbrauchen ihre Marktmacht. Es gibt nur fünf bis zehn große internationale Unternehmen, die neue Krebsmedikamente auf den Markt bringen können. Kleinere Firmen sind nicht schnell genug im Zulassungsverfahren. Ihnen fehlen Geld und Einfluss auf die notwendigen Wissenschaftler und Behörden. Die Kernkompetenz der Krebsindustrie ist nicht ihre Forschung, sondern ihr Kapital und ihre Kontakte. Krebsstudien werden unter enormem Zeitdruck und daher mit sehr hohen Ausgaben gemacht, und die Zulassung erfolgt immer schneller, meist nur noch nach einer Studie. Deutsche Mittelstandsunternehmen sind völlig abgeschlagen. Zwei Handvoll von Großkonzernen in Kooperation mit amerikanischen Spitzenuniversitäten diktieren die Preise der neuen Krebsmedikamente für die ganze Welt. Ihre Monopole sind so stark wie die von Google oder Amazon.
4. Diese Pharmafirmen behindern die Forschung oft sogar. Laien glauben, die wichtigsten neuen Medikamente in der Krebsmedizin kämen aus der Forschung der Industrie. Sie sind aber Ergebnis der Forschung von Universitäten und Forschungsinstituten. Die wichtigsten neuen Krebsmedikamente wurden von der Harvard Universität, der UCLA, Berkeley und der Universitäten von Oregon und Texas entwickelt, fast alle vom National Cancer Institute in Maryland unterstützt. Die Pharmafirmen geben aber nur 1,3 Prozent ihres Umsatzes für die Grundlagenforschung aus. Sie wollen schnell zu neuen lukrativen Produkten kommen. So werden bereits bekannte Wirkstoffe leicht verändert und für neue Indikationen zugelassen, was Geld und Wissenschaftler von der dringend benötigten Grundlagenforschung abzieht. Während die Konzerne die höchsten Gewinne der Geschichte machen beklagt der ehemalige Direktor des National Cancer Institute, Harold E. Varmus, zurecht, dass wegen Geldmangel wichtige Grundlagenforschungen aufgegeben werden, Projekte, die darüber entscheiden, wann Krebs heilbar sein wird. In Deutschland ist die Grundlagenforschung sogar so unterfinanziert, dass nur Nischenentwicklungen möglich sind. Dazu kommen überzogene Hürden beim Datenschutz für die notwendigen genetischen Daten.
5. Die hohen Preise sprengen das System. Führende amerikanische Krebsärzte und die Krebsgesellschaft ASCO appellieren an Politik und Industrie in öffentlichen Aufrufen, die Preise zu senken, weil sie sonst ihre Patienten nicht mehr behandeln könnten. Die „Financial Toxicity“ der neuen Medikamente ist gefährlich auch für unser Gesundheitssystem. In Deutschland sind die neuen Krebsmedikamente 10 bis 40 Mal so teuer wie die alten. Die zusätzlichen Kosten werden gerade durch die zu erwartende Kombination der Wirkstoffe weiter explodieren. Wenn wir von den jährlich zu erwartenden 600.000 neuen Krebserkrankungen etwa die Hälfte mit den neuen Medikamentenkombinationen behandeln, sind Mehrkosten von bis 45 Milliarden Euro pro Jahr zu erwarten, mehr als was die Pflegeversicherung insgesamt je kosten wird. Die Patienten hätten häufig nur wenige Wochen oder Monate länger zu leben. Dazu kommt, dass sich ihre Lebensqualität durch die Behandlung im Vergleich zu einer Palliativbehandlung oder einer weniger aggressiven Behandlung oft verschlechtert und es auch keine Daten dazu gibt, ob die in den amerikanischen Spitzenuniversitäten unter Maximalaufwand erreichten meist nur geringen Verlängerungen des Überlebens in Deutschland unter oft ungleich schwierigeren Bedingungen überhaupt zeigen lassen. Auch wirken die Medikamente nur bei genetisch genau passenden Krebstumoren, und ob die Indikation im Routinebetrieb immer gegeben ist, wurde nie untersucht. Es fehlt an Daten, Experten, Qualitätssicherung und vor allem an industrieunabhängigen Studien nach der Zulassung.
Pharmaindsutrie weicht aus
In der Großen Koalition haben wir das Thema bisher ausgeklammert, es findet ein eher zäher „Pharmadialog“ statt, wo es bisher nie um dieses Thema ging. Die Pharmaindustrie weicht dem Thema aus, selbst in Talkshows. Heutige Erstattungsregeln der Krankenkassen funktionieren bei diesen Medikamenten nicht. Wir müssen daher sofort handeln. Notwendig ist eine viel bessere Prüfung neuer Krebsmedikamente vor der Zulassung bei mehr Patienten, längerer Beobachtungszeit und bei Alltagspatienten. Die Regeln der Europäischen Zulassungsbehörde müssen industrieunabhängig erneuert werden. Wir brauchen Studien, die den Erfolg der Medikamente nach der Zulassung untersuchen, so dass nicht die falschen Patienten behandelt werden. Die Patienten müssen realistisch und industrieunabhängig über die neuen Therapien aufgeklärt werden, dann würden sich viele nach vorliegenden Erfahrungen gegen die Behandlung entscheiden. Die Palliativmedizin muss für unheilbare Fälle massiv verstärkt werden, der Kampf für bessere Vorbeugung und Früherkennung härter geführt werden, insbesondere gegen die Tabakindustrie. Das Rauchen verursacht in Deutschland noch immer ein Vielfaches der Krebstodesfälle, die durch die gezielte Therapie insgesamt gerettet werden können. Und schließlich muss es eine Senkung der überhöhten Preise geben. Damit die Länder Europas hier nicht gegeneinander ausgespielt werden können, sollte ein europäischer Erstattungspreis durch eine zentrale neue Einrichtung gefunden werden, ähnlich wie bei der Zulassung. Dabei sollte der tatsächliche Nutzen der Medikamente auch im Vergleich zu allen Alternativen geprüft werden. Wenn uns in diesem Bereich die Preise weiter diktiert werden, muss das verlorene Geld anderswo gespart werden, z. B. in der Pflege oder bei der Vorbeugung. Für eine Behandlung, die das Leben oft nur um Wochen - wenn überhaupt – verlängert, können mehrere Pflegekräfte ein Jahr lang bezahlt werden. Auch sie retten Menschenleben. Und es muss mehr Geld in die Grundlagenforschung bei Krebs fließen, die Wissenschaft sieht bereits Licht am Ende des Tunnels.
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