Die SPD hat immer wieder Verhandlungen angeboten, konstruktive Vorschläge gemacht und rechtzeitig einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt. Monatelang jedoch konnten sich Union und FDP untereinander nicht auf einen gemeinsamen Entwurf einigen. Die schwarz-gelbe Koalition hat die Wahlrechtsreform aus machtpolitischen Gründen verschleppt. Das ist eine beispiellose Respektlosigkeit gegenüber dem Bundesverfassungsgericht und eine Geringschätzung der demokratischen Ordnung.

Die Koalition hat einen rechtsfreien Raum im Wahlrecht geschaffen. Eine neu angesetzte Bundestagswahl wäre ungültig. Es gäbe keinen handlungsfähigen Bundestag. Deutschland wäre politisch lahm gelegt. Mit Ach und Krach hat Schwarz-Gelb am Tag des Fristablaufs wenigstens einen Entwurf vorgelegt – dieser Entwurf ist ein dürftiges Notkonstrukt, das die eigentlichen Probleme nicht löst. Man kann daran zweifeln, ob dieser Entwurf die 2. und 3. Lesung übersteht.

Warum ist das Wahlrecht verfassungswidrig?

Beanstandet hat das Bundesverfassungsgericht eine Paradoxie im deutschen Wahlrecht: das so genannte negative Stimmgewicht. Von negativem Stimmgewicht spricht man, wenn eine Partei zwar mehr Zweitstimmen erhält, dadurch allerdings Mandate verliert – oder umgekehrt Mandate gewinnt, obwohl sie weniger Zweitstimmen erhält. Ausgangsfall vor dem Bundesverfassungsgericht war die Dresdner Nachwahl zum Bundestag am 2. Oktober 2005. Hätte die CDU dort rund 40.000 Zweitstimmen hinzugewonnen, hätte sie im Ergebnis weniger Abgeordnete in den Bundestag geschickt. Aus dem Überhangmandat in Dresden wäre ein reguläres Listenmandat in Sachsen geworden. Dafür hätte die CDU aber ein Listenmandat in Nordrhein-Westfahlen verloren. Bei einem solch verzerrenden Wahlrecht können sich die Bürgerinnen und Bürger nicht darauf verlassen, dass ihre Stimme ihrer Partei nützt. Das hat das Bundesverfassungsgericht zu Recht beanstandet.

Überhangmandate verletzen die Gleichheit im Wahlrecht

Noch gravierender verzerren Überhangmandate die Wirkung von Wählerstimmen. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach Zweitstimmen eigentlich zustehen. Lange Zeit war die Zahl der Überhangmandate im Bundestag überschaubar. Bis einschließlich 1990 waren es nie mehr als sechs Überhangmandate. Bei der letzten Bundestagswahl hat die CDU/CSU 24 Überhangmandate gewonnen – so viele wie nie zuvor. 24 Überhangmandate stellen bereits 4 Prozent der regulären Gesamtzahl der Parlamentssitze. Das ist wie eine sechste Fraktion im Bundestag. Die Tendenz ist steigend: Die Zahl der Überhangmandate wird bei einer größeren Anzahl erfolgreicher Parteien und geringerer Wahlbeteiligung weiter anwachsen. 24 Überhangmandate bedeuten auch: Keine von den 1,5 Millionen Wählerstimmen, die man normalerweise braucht, um di-se Anzahl an Mandaten zu gewinnen, musste sich die Union verdienen. Sie hat diese Mandate extra obendrauf bekommen.

Noch hat das Bundesverfassungsgericht Überhangmandate nicht für verfassungswidrig erklärt. Wir sind aber aus vier Gründen der Überzeugung: Überhangmandate sind verfassungswidrig!

  • Erstens: Überhangmandate verleihen manchem Wähler ein doppeltes Stimmgewicht. Wer mit Stimmensplitting zu Überhangmandaten beiträgt, wählt im Einzelfall nicht einen, sondern zwei Abgeordnete in den Bundestag. Das zentrale Versprechen der Demokratie aber ist: Gleiches Wahlrecht für alle.

  • Zweitens: Überhangmandate führen zu einer regionalen Ungleichverteilung der Mandate. Die CDU in Baden-Württemberg hat bei der letzten Bundestagswahl zehn Überhangmandate gewonnen. Das politische Gewicht allein dieser Überhangmandate ist fast genauso groß wie das politische Gewicht Hamburgs im Bundestag: Hamburg hat insgesamt 13 Bundestagsmandate. Baden-Württemberg gewinnt durch die zehn Überhangmandate zusätzlichen politischen Einfluss.

  • Drittens: Überhangmandate verletzten die Chancengleichheit der politischen Parteien bei den Wahlen. Bei der letzten Wahl brauchte die SPD für ein Bundestagsmandat 68.500 Stimmen, die CSU 62.000 Stimmen und die CDU 61.000 Stimmen. Wenn einzelne Parteien weniger Stimmen für ein Mandat benötigen, ist das kein faires Wahlrecht.

  • Viertens: Überhangmandate können die Mehrheiten im Bundestag umdrehen. Maßgebend für die Verteilung der Sitze im Parlament ist die Zweitstimme. Wir haben jetzt ein Wahlrecht, bei dem eine Partei Zweitstimmen verlieren kann und am Ende aufgrund von Überhangmand-ten doch mehr Sitze im Parlament hat. Bei der letzten Bundestagswahl hat die CDU in Baden-Württemberg 400.000 Stimmen gegenüber der Wahl im Jahr 2005 verloren und aufgrund der Überhangmandate dennoch zehn Sitze hinzugewonnen. Ein solches Wahlrecht repräsentiert den Wählerwillen nicht.

Bei einem knappen Ergebnis bei der nächsten Bundestagswahl bergen Überhangmandate zudem die Gefahr, dass die Parteien mit den meisten Zweitstimmen nicht die Mehrheit der Sitze im Bundestag haben. Die Überhangmandate können den im Zweitstimmenergebnis dokumentierten Wählerwillen umdrehen. Wenn das passiert, dann verlieren die Wählerinnen und Wähler das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie. Das kann eine Verfassungskrise auslösen.

Unser Vorschlag: Ausgleichsmandate für Überhangmandate

Ein verfassungskonformes Wahlrecht muss deshalb nicht nur das negative Stimmgewicht beseitigen, sondern auch die Überhangmandate neutralisieren. Wir haben dazu rechtzeitig einen Gesetzentwurf vorgelegt. Diesen Entwurf hat der Bundestag am 26. Mai 2011 beraten.

Unser Gesetzentwurf sieht vor, dass für Überhangmandate Ausgleichsmandate gewährt werden. Dadurch wird die Proportionalität des Zweitstimmenergebnisses wieder hergestellt. Außerdem gewährleisten Ausgleichsmandate, dass die Stimmabgabe für eine Partei dieser Partei auch tatsächlich nützt. Die Wählerinnen und Wähler können sich dann wieder darauf verlassen, dass sie mit ihrer Stimme auch das bewirken, was sie beabsichtigt haben.

Wir räumen ein: Durch Ausgleichsmandate und Überhangmandate besteht die Gefahr, dass der Bundestag größer werden kann. So wäre der Bundestag durch Ausgleichsmandate bei der Bundestagswahl 2009 von 622 auf 666 Mandate angewachsen. Deshalb sagen wir: Nach der nächsten Bundestagswahl werden wir auswerten, wie sich die Ausgleichsmandate tatsächlich ausgewirkt haben. Hat sich das Parlament dann unverhältnismäßig vergrößert, wären wir bereit, die Direktwahlkreise maßvoll zu reduzieren. Dadurch könnten wir den Bundestag wieder verkleinern. Zudem: Wenn es mehr Listenmandate als Direktmandate gibt, können weniger Überhangmandate entstehen.

Union missbraucht Wahlrecht als Machtrecht

Fazit: Die Koalition will das Problem der Überhangmandate nicht lösen. Sie missbraucht ihre Mehrheit im Bundestag, um ihre Macht zu sichern. Noch 2005 hat Volker Kauder gegenüber dem Bundesverfassungsgericht erklärt: „Überhangmandate sind rechtlich bedenklich und aus demokratischer Sicht nicht wünschenswert." Kauder stand damals unter dem Eindruck der Bundestagswahl 2002. Bei dieser Wahl hatte überwiegend die SPD Überhangmandate errungen. Heute meint die Union von Überhangmandaten profitieren zu können. Also klammert sie sich an ihnen fest.

Wenn aber die Koalition das Problem der Überhangmandate nicht löst, werden wir vor dem Verfassungsgericht klagen. Eine Schmalspur-Reform des Wahlrechts wird es mit der SPD nicht geben.