Leipziger Volkszeitung: Muss Annette Schavan ohne Doktortitel aus der Bundesregierung ausscheiden?

Steinmeier: Ich kenne Frau Schavan aus gemeinsamen Zeiten in der Großen Koalition und schätze sie persönlich. Auch deshalb fällt mir die Vorstellung schwer, dass die gegen sie erhobenen Vorwürfe am Ende tragen. Sicher bin ich mir nur: Sollte es dennoch zur Aberkennung des Doktortitels kommen, wird sie als für die Wissenschaft verantwortliche Ministerin wissen, was zu tun ist.

Leipziger Volkszeitung: Ist Rainer Brüderle für Sie ein Ehrenmann oder einer von vielen sexistischen Notfällen in der noch immer von älteren Männern dominierten Politik?

Steinmeier: Vom Sockel des Ehrenmann-Denkmals sind schon zu viele gestürzt – wir sollten aufhören, jeden erst drauf zu hieven und ihn anschließend runterfallen zu sehen. Für mich ist Rainer Brüderle zunächst Vorsitzender einer mit uns konkurrierenden Fraktion im Bundestag und neuerdings Spitzenkandidat seiner Partei, die durch hemmungslose Klientelwirtschaft à la Mövenpick und kaltem Wirtschaftsliberalismus im Dienst der Finanzjongleure viel zum Ansehensverlust von Politik beigetragen hat. Was die gegen ihn persönlich erhobenen Vorwürfe angeht, so werden sie verstehen, dass ich mich dazu nicht äußern kann, ohne dabei gewesen zu sein, oder nähere Informationen zu haben. Was die durch die Berichterstattung ausgelöste Debatte über Sexismus im Alltag angeht, so gibt´s jenseits von Heuchelei nur einen Grundsatz, den sich Politiker – und vermutlich nicht nur die – auferlegen müssen: nämlich professionelle Distanz wahren!

Leipziger Volkszeitung: Haben Sie den Eindruck,  die Nähe von Politik und Presse ist zu groß, zu intim geworden?

Steinmeier: Die Nähe von Politik und Medien ist unvermeidbar und beides wird von Menschen gemacht. Ich glaube indes nicht, dass sie wirklich größer geworden ist. Mein Eindruck ist, dass in den alten Bonner Verhältnissen die persönlichen Beziehungen zwischen Politik und Presse eher dichter waren als heute. Dafür mag die damals noch erkennbare Selbstverortung von Medien im politischen Raum ein Grund sein, ganz sicher aber die Überschaubarkeit im alten Bonn, die häufig genug zu „grenzüberschreitenden“ Freundschaften führte. Heute sind die Bedingungen gänzlich andere. Der Konkurrenzdruck ist unendlich gewachsen, der kurzfristige Verwertungsaspekt einer Information viel wichtiger geworden, als  alles andere. Die Distanz hat insgesamt eher zugenommen, glaube ich. Die Bereitschaft zu kurzfristigen taktischen Bündnissen und damit zu gegenseitiger Instrumentalisierbarkeit, ist ohne Zweifel größer geworden.

Leipziger Volkszeitung: Was ist Ihre Erklärung dafür, dass dem ungestümen Weinköniginnen-Küsser Brüderle die Geschichte seiner Männerwitz-Struktur ausgerechnet jetzt auf die Füße fällt?

Steinmeier: Alle, die in Spitzenpositionen der Politik einrücken, wissen, dass sie in der ersten Reihe stehen und sich deshalb einer neuen öffentlichen Durchleuchtung unterziehen müssen. Herr Brüderle ist ja nicht der erste, der das erlebt.

Leipziger Volkszeitung: Tut Ihnen Rainer Brüderle leid?

Steinmeier: Wenn ihm Unrecht geschieht, tut er mir leid. Ob das der Fall ist, weiß er nur selbst.

Leipziger Volkszeitung: Kann Angela Merkel der FDP von heute politisch noch trauen?

Nach der Niedersachsen-Wahl zeigt sich doch, dass für Schwarz-Gelb die zehn Prozent für die FDP genauso wertlos sind, wie es 4,5 Prozent gewesen wären. Die FDP ist aus sich heraus keine lebensfähige Partei mehr. Sie ist nur mit Hilfe von Zweitstimmen der CDU im politischen Parteiensystem noch überlebensfähig. Doch auch das ändert ja offensichtlich nichts daran, dass Union und FDP gemeinsam keine Mehrheit haben. Durch den Kampf um die Spitzenpositionen nach der Niedersachsenwahl ist das Formtief der FDP wieder größer geworden. Zur wirklichen personellen Neuaufstellung für die Bundestagswahl fehlte der Mut. Mit der Doppelspitze Rösler und Brüderle werden Nachteile beider Personen an der Spitze gesammelt. Frau Merkel weiß, dass das ein abgängiger Koalitionspartner ist.

Leipziger Volkszeitung: Ist die FDP kein Partner, der die SPD auf absehbare Zeit interessiert?

Ich bin da ein ganz schlechter Ratgeber. Ich war 2009 derjenige, der Zusammenarbeit mit der FDP nicht ausgeschlossen und die Ampel-Koalition als eine denkbare Alternative vorgeschlagen hat. Die FDP und ihr Vorsitzender Westerwelle  haben sich damals ein Stalking durch die SPD verbeten. Ich bin zwar nicht nachtragend, aber ich vergesse auch nichts.

Leipziger Volkszeitung: Beim nächsten Mal muss die FDP die SPD stalken, um gehört zu werden?

Das ist keine Frage des Stalkings, sondern der Neuausrichtung liberaler Politik. Ich bin ja nicht der einzige der sagt, dass die FDP ihr historisches Erbe aufgegeben hat und in den Augen vieler nur noch für kalten Wirtschaftsliberalismus steht. Das ist aber keine Basis, auf der die Partei mit anderen zusammen kommen kann. Die FDP muss selbst zu der Entscheidung kommen, ob sie ihren Weg in den Abgrund in babylonischer Gefangenschaft mit der CDU weitergeht oder wieder eine eigenständige Partei werden will, die offen sind für andere Konstellationen.

Leipziger Volkszeitung: Kann Hannelore Kraft über die Koordination der Bundesratsmehrheit den Deutschen in den nächsten Monaten zeigen, dass es eine bessere Kanzlerin in Deutschland gäbe?

Hannelore Kraft wird mit den SPD-Ministerpräsidenten, Peer Steinbrück und der Bundes-SPD dafür sorgen, dass wieder Bewegung in die politische Landschaft kommt. Der von Union und FDP verwaltete Stillstand kann jedenfalls nicht noch ein weiteres dreiviertel Jahr andauern. Merkel zieht die europäische Krise wie einen Vorhang über die gesamte Innenpolitik und versteckt dahinter Chaos und Streit in ihrem Kabinett. Seit zwei Jahren geht in diesem Land nichts mehr voran. Die Regierung lebt von der Hand im Mund und verfrühstückt die Vorräte, die wir uns durch die Reformen des letzten Jahrzehnts angelegt haben.

Leipziger Volkszeitung: Ist es verantwortbar, den Bürgern zu sagen, das Betreuungsgeld kann bis zur Wahl  via Bundesrat weg sein?

Nicht verantwortbar ist das Betreuungsgeld. Es ist eine bildungspolitische Katastrophe. Es benachteiligt genau die Kinder, die am dringendsten Förderung bräuchten. Und dass Union und FDP das Betreuungsgeld erst im August, einen Monat vor der Bundestagswahl, das erste Mal auszahlen wollen, zeigt doch: Die wissen genau, dass das Gesetz spätestens nach der Wahl wieder von der neuen Mehrheit kassiert wird. Aber damit da kein Zweifel aufkommen kann, wird eine Initiative der Mehrheit im Bundesrat versuchen, das Inkrafttreten dieses unsinnigen Betreuungsgeldes zu verhindern.

Leipziger Volkszeitung: Erwarten Sie die Zustimmung mindestens des CDU/CSU-Arbeitnehmerflügels zu der angekündigten Mindestlohn-Initiative über den Bundesrat?

Mag sein, dass es selbst in der Union einige gibt, die darauf warten, dass die neue Mehrheit im Bundesrat mit einer Initiative zum Mindestlohn kommt. Jedenfalls können Sie sich sicher sein, dass die rot, bzw. grün geführten Landesregierungen schon kurzfristig einen Gesetzesentwurf in den Bundesrat einbringen werden, der den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn regelt. Ich bin gespannt, ob im Bundestag die Regierungsmehrheit von Union und FDP in der Lage ist, eine solche Initiative nieder zu stimmen.

Leipziger Volkszeitung: Muss ein Kanzlerbewerber bei den Bürgern beliebt sein?

Die Niedersachsen-Wahl zeigt, Beliebtheit allein ist keine Versicherung, wiedergewählt zu werden. Deshalb entscheiden Persönlichkeitswerte wie die der Kanzlerin nicht über den Ausgang der nächsten Wahl. Aber selbstverständlich muss ein Kanzlerkandidat über Anerkennung und Respekt bei der Bevölkerung verfügen….

Leipziger Volkszeitung: So wie Peer Steinbrück?

Steinmeier: Einem Kanzlerkandidaten muss zugetraut werden, dass er politische Themen, für die er streitet, auch durchsetzt. Peer Steinbrück ist so einer.

Leipziger Volkszeitung: SPD-Chef Gabriel meint, die Troika gibt es mindestens noch bis zur Bundestagswahl. Ist Steinbrück der Angriffsspieler, und Sie und Gabriel sind die Abwehrspieler?

Steinmeier: Nein. Mit der Entscheidung über den Kanzlerkandidaten ist aus der Troika ein Dreieck geworden mit der Folge, dass Peer Steinbrück eindeutig an der Spitze steht. Und Sigmar Gabriel mit der Partei und ich mit der Fraktion wollen mit all unserer Kraft dazu beitragen, dass Peer Steinbrück Kanzler wird.

Leipziger Volkszeitung: Darf ein Kanzlerkandidat im Wahlkampf die Kanzlerin auch schlecht machen?

Steinmeier: Die Menschen sind von Schlägen unter die Gürtellinie eher angewidert. Aber harte und sachorientierte Kritik an der Person Merkel, ist natürlich erlaubt und notwendig. Es geht um Auseinandersetzung über Politik. Keine Bundesregierung vorher hat so unverblümt auf die Bedienung der eigenen Klientel gesetzt wie diese. Keine Regierung zuvor hat so ängstlich vor der Entscheidung wichtiger Zukunftsfragen gekniffen. Dafür trägt Angela Merkel die Verantwortung.

Leipziger Volkszeitung: Sie haben sich für den nächsten Bundestag nominieren lassen. Wollen Sie das Mandat vier Jahre ausüben, oder hoffen Sie, demnächst  abschwirren zu können  in eine internationale Organisation, weil Ihnen das näher liegt als die eher dröge Arbeit im Bundestag?

Steinmeier: Wenn Sie das als dröge empfinden, kann ich nur sagen: Mir geht´s umgekehrt. Nach elf Jahren Regierungsarbeit habe ich die Aufgabe im Parlament und an der Spitze der Fraktion eher unterschätzt. Sie ist ganz anders als die Jahre zuvor, bietet aber unheimlich viel Gestaltungsspielraum. Ich mache das mit Freude und Lust und hab nicht den geringsten Grund nach einem Unterkommen in internationalen Organisationen zu suchen. Nein, ich bin gerade in Brandenburg erneut als Wahlkreiskandidat gewählt worden, ich möchte den Wahlkreis wieder gewinnen, und zwar direkt. Und ich möchte das Mandat ausüben, und zwar für vier Jahre.

Interview: Dieter Wonka