Einer Ihrer großen Vorgänger ist in dieser Woche gestorben, Helmut Schmidt. War er Vorbild für Sie, gerade in diesem Amt?

 

Oppermann: Das war er ohne jeden Zweifel. Zwar gehöre ich zu der Generation von Studenten und Jungsozialisten, die gegen den Nato-Doppelbeschluss und damit gegen die Politik von Helmut Schmidt demonstriert haben. Aber schon damals habe ich ihn in seiner Art, die Regierung von vorne zu führen, immer bewundert.

Mit Helmut Schmidt als Fraktionschef ist die SPD 1969 gestärkt aus einer großen Koalition hervorgegangen – warum gelingt Ihnen das heute nicht mehr?

Wir werden aus dieser Koalition gestärkt hervorgehen. Wir machen in dieser Regierung gute Arbeit. Mindestlohn, Frauenquote und Mietpreisbremse aus der ersten Hälfte der Wahlperiode sind nur wenige Beispiele dafür. In der zweiten Halbzeit werden wir noch mehr gefordert durch die Flüchtlingskrise und die damit verbundenen Aufgaben.  

Gerade da herrscht aber der Eindruck vor, dass die Große Koalition die Dimension des Problems zu spät erkannt hat und nun alles andere als geschlossen agiert. Wie kann man denn den aktuellen Flüchtlingsstrom eindämmen?

Den Vorwurf, dass wir das Problem mit den Flüchtlingen zu spät erkannt hätten, lasse ich für die SPD nicht gelten. Wir drängen seit über einem Jahr darauf, die Länder und Kommunen besser auszustatten, den Wohnungsbau anzukurbeln und die nötige Infrastruktur zur Aufnahme der Flüchtlinge zu schaffen, vor allem schnellere Verfahren. Leider haben wir uns gegen die Union erst durchsetzen können, als die Zahl der Flüchtlinge rasant nach oben ging. Jetzt laufen wir der Entwicklung ein Stück hinterher und brauchen dringend ein besseres Management. Das Durcheinander in der Union muss aufhören, sie muss klären, wer in der Flüchtlingspolitik das Sagen hat: Merkel oder Schäuble, Altmaier oder de Maiziere.

Der Bundesinnenminister überrascht in diesen Tagen mit immer neuen Soloauftritten. Ist ein Minister, der so eigenmächtig agiert, noch tragbar für die Kanzlerin und den Koalitionspartner?

Wir haben verschiedene Entscheidungen des Innenministers erst aus den Medien erfahren, das ist nicht gut. Wir müssen verlässlich zusammenarbeiten in der Regierung. Wenn der Kanzleramtschef den Innenminister zurückpfeift, dann aber der Finanzminister den Kanzleramtschef korrigiert, dann ergibt sich ein so chaotisches Bild, dass die Menschen das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit und Entschlossenheit dieser Regierung verlieren.

Der Finanzminister hat ein sehr eigenwilliges Bild für die gegenwärtige Situation gefunden und von einer Lawine gesprochen, die von einem unvorsichtigen Skifahrer ausgelöst wurde. Welche Absicht steckt dahinter?

Solche Vergleiche sind nicht hilfreich. Das muss doch alles nicht sein. Zudem vermittelt das Bild den Eindruck, als müsse man ohnmächtig zuschauen, wie sich immer mehr Flüchtlinge in Bewegung setzen. Das Gegenteil ist richtig. Es gibt handfeste Gründe, weshalb sich Hunderttausende Menschen auf die Flucht begeben. Auf viele dieser Ursachen können wir Einfluss nehmen. Wenn die EU schnell und kraftvoll handelt, dann können wir die Situation in den Flüchtlingslagern in der Krisenregion in kurzer Zeit grundlegend verbessern, so dass die Menschen nicht mehr aus Mangel an Nahrung oder Schulplätzen für ihre Kinder nach Europa kommen müssen.

Welchen Sinn macht eigentlich die Forderung, die von Herrn Seehofer und Teilen der Union, aber auch von Oskar Lafontaine und manchen SPD-Kommunalpolitikern erhoben wird, eine Obergrenze für die Flüchtlingsaufnahme in Deutschland zu definieren, wo der Innenminister noch nicht einmal genau weiß, wie viele Menschen sich inzwischen in den Aufnahmelagern der Republik aufhalten?

Die Diskussion über Obergrenzen macht keinen Sinn. Unstreitig ist doch, dass wir dringend die Zahl der Flüchtlinge, die täglich zu uns kommen, verringern müssen. Eine Million Flüchtlinge pro Jahr kann man unterbringen und versorgen, aber die entscheidende Herausforderung ist doch, diejenigen, die dauerhaft bei uns bleiben, zu integrieren. Und da gibt es selbstverständlich faktische Grenzen.

Die SPD will Bundeswehr-Pensionäre zurückholen, damit sie helfen können, die Flüchtlingskrise zu bewältigen. Die Verteidigungsministerin scheint davon nicht begeistert zu sein. Droht da neuer Krach in der Koalition?

Soldaten gehen je nach Dienstgrad schon ab 54 Jahren in den Ruhestand Da sind noch viele fit und wollen helfen. Ich bin dafür die große Erfahrung und Tatkraft dieser Menschen zu nutzen. Ich verstehe gar nicht, warum man da dagegen sein kann.

Ex-Generalinspekteur Kujat hat den Plan der Koalition kritisiert, die Zahl der Bundeswehrsoldaten in Afghanistan aufzustocken. Das diene nur als Alibi der Politik, ohne etwas an der Sicherheit im Land zu ändern. Muss man nicht das Mandat so verändern, dass die Bundeswehr zusammen mit anderen Streitkräften erst einmal Sicherheitszonen in Afghanistan schafft, wo die Menschen so sicher leben können, dass sie nicht zur Flucht getrieben werden?

Nein, wir planen keine von der Bundeswehr verteidigten Sicherheitszonen in Afghanistan. Wir wollen prüfen, ob es in Afghanistan innerstaatliche Fluchtalternativen gibt, also Regionen, in denen Menschen Schutz finden, damit sie nicht nach Deutschland fliehen müssen. Dazu wollen wir den Ausbildungseinsatz der Bundeswehr nicht in einen Kampfeinsatz verwandeln, sondern das Mandat in angemessener Größenordnung verlängern. Wir werden länger dort bleiben müssen als bisher geplant, um die afghanische Armee in den Stand zu versetzen, für Sicherheit im Land zu sorgen. Der Anspruch auf Asyl in Deutschland besteht nur dann, wenn ein Flüchtling im eigenen Land keine Fluchtalternativen hat.

Viele Menschen treibt gegenwärtig die Sorge um, dass ihr eigenes Leben durch die Folgen der Flüchtlingskrise materiell beeinträchtigt wird – durch fehlende Wohnungen und Arbeitsplätze zum Beispiel. Oder dadurch, dass die Finanzmittel, die für die Flüchtlinge gebraucht werden, an anderer Stelle fehlen, vor allem bei den sozial Schwächeren. Können Sie diese Befürchtungen zerstreuen?

Ich verstehe diese Sorgen. Deshalb müssen wir verhindern, dass durch die Flüchtlinge soziale Verteilungskämpfe zu Lasten der Schwächeren entstehen. Wenn wir jetzt den Wohnungsbau angehen, dann werden wir Wohnungen für alle schaffen, die eine bezahlbare Wohnung brauchen. Wenn die Flüchtlingskinder in die Kitas und Schulen kommen, dürfen dadurch die Gruppen und Klassen nicht vergrößert werden zum Nachteil aller Schüler. Bei der jetzt anstehenden Integration dürfen wir keine halben Sachen machen – nicht kleckern, sondern klotzen, heißt die Devise. Wir dürfen nicht nur die damit verbundenen finanziellen Belastungen sehen, wir müssen auch die großen Chancen erkennen, die sich mit dieser Aufgabe verbinden. Die Hälfte der Flüchtlinge ist jünger als 25 Jahre, in der deutschen Bevölkerung ist es bloß ein Viertel. Die Flüchtlinge können uns helfen, den Fachkräftemangel von morgen und übermorgen zu decken.

Und weitere Ausnahmen beim Mindestlohn wird es nicht geben?

Ausnahmen für Flüchtlinge beim Mindestlohn wären genau das Falsche.. Das würde im Niedriglohnsektor 3,7 Millionen Menschen, die lange auf den Mindestlohn von 8,50 Euro gewartet haben, in Angst um ihren Arbeitsplatz versetzen. Wenn nämlich Flüchtlinge für 5 Euro arbeiten können, käme es zu einem Verdrängungsprozess. Genau solche Verteilungskämpfe darf es nicht geben, das wäre sozialer Sprengstoff.  

In der Union brodelt es. Immer mehr Abgeordnete in der CDU/CSU-Fraktion wenden sich von Angela Merkel ab. Was macht die SPD, wenn die Kanzlerin von den eigenen Leuten abserviert und durch Schäuble ersetzt wird?

Ich hoffe, dass die Union bald ihre innerparteilichen Konflikte klären kann. Wir brauchen jetzt einen handlungsfähigen Koalitionspartner. Wir sind bereit, auch schwierige Entscheidungen zu treffen. Aber wir können nicht die Probleme innerhalb der Union lösen.

Egal, was passiert, die SPD liegt in den Umfragen bei etwa 25 Prozent. Im Moment zählt auch nicht mehr das Argument, die übergroße Popularität der Kanzlerin drücke die SPD an die Wand. Was macht die  SPD falsch?

Ich glaube, wir machen im Moment viel richtig. Wir unterstützen die Menschen, die sich mit großer Hilfsbereitschaft um die Flüchtlinge kümmern. Aber wir nehmen auch die Sorgen derjenigen ernst, die sich fragen, was das für sie bedeutet. Jetzt geht es darum, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Das ist eine Kernkompetenz von uns Sozialdemokraten. Und es geht darum, die Flüchtlinge, die dauerhaft bei uns bleiben, zu integrieren. Auch darauf verstehen wir uns gut. Wir müssen eine der schwersten Herausforderung, vor der unser Land je stand, bewältigen. Da darf Parteipolitik nicht im Vordergrund stehen.

Im Moment sieht es nicht danach aus, als ob die SPD 2017 den Kanzler oder die Kanzlerin stellen kann. Es sei denn, die SPD spielt doch noch mit dem Gedanken, ein rot-rot-grünes Bündnis eizugehen.

Solche Gedankenspiele gibt es bei uns nicht. Wir werden mit einem sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten in die nächste Bundestagswahl ziehen. Bis dahin sind es aber fast noch zwei Jahre. Angesichts all der Arbeit, die im Moment vor uns liegt, ist jetzt der falsche Zeitpunkt, sich jetzt über die Zeit nach der nächsten Bundestagswahl Gedanken zu machen.

Gibt es von der neuformierten Spitze der Linksfraktion Signale, die Rot-Rot-Grün wahrscheinlicher machen?

Ich habe mich mit Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch zu einem kollegialen Gespräch verabredet. Ich werde mit Interesse beobachten, wie sich die Fraktion unter dieser Führung entwickelt. Bislang hat der Führungswechsel für mich noch keine erkennbaren Auswirkungen gehabt. Ich wünsche aber den Linken eine Hinwendung zum Realismus. Gerade angesichts der anstehenden Probleme.

Im März gibt es drei Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt. Wie beurteilen sie da die Chancen der SPD?

Ich sehe für die SPD in allen drei Ländern gute Chancen. Wir werden dort zeigen wie man wirtschaftlichen Erfolg und soziale Gerechtigkeit verbindet und das Land in eine gute Zukunft führt. Die SPD ist bei diesen Landtagswahlen gut aufgestellt.

Immer neue Skandale beim BND erschüttern das Vertrauen zu diesem Geheimdienst. Ist es nicht allmählich Zeit für personelle Konsequenzen an der Spitze des Amtes?

Es ist gut, dass wir uns auf eine grundlegende Reform beim BND noch in dieser Wahlperiode verständigt haben. Der BND ist jahrelang an der langen Leine geführt worden. Wir müssen ihn jetzt an die Kandare nehmen und insbesondere die parlamentarische Kontrolle stärken. Es kann nicht sein, dass hochbrisante Abhöraktionen gegen Amtsträger und Regierungsmitglieder befreundeter Länder durchgeführt werden, ohne dass der Präsident des BND davon Kenntnis gehabt haben soll. Auch das Kanzleramt muss seiner Aufsichtspflicht besser nachkommen.

BND-Präsident Schindler steht für Sie noch nicht zur Disposition?

Wir sind mitten in der Untersuchung der Vorgänge. Welche Konsequenzen sich daraus ergeben, sollten wir am Ende der Untersuchungen klären. Natürlich trägt Herr Schindler für Vorgänge aus seiner Amtszeit die Verantwortung.