Herr Steinmeier, hört man Peer Steinbrücks Äußerung zu Angela Merkel, dann denkt man, er wolle sagen, Ostdeutsche könnten keine Europapolitik. Wie finden Sie das?

Frank-Walter Steinmeier: Diese Debatte ist wieder typisch. Monatelang wird Peer Steinbrück unter der Gürtellinie angegriffen. Und jetzt wird eine alte Äußerung von ihm aus einem Band genommen, den er zusammen mit Helmut Schmidt gemacht hat, um sie zu einem neuen Skandal hochzureden. Peer Steinbrück hat ausdrücklich gesagt, dass die ostdeutsche Biografie kein Vorwurf ist. Er hat einfach auf unterschiedliche Lebenswege verwiesen.

Viele Sozialdemokraten sollen ja ziemlich sauer auf Sie sein, weil Ihr überraschender Verzicht auf die Kanzlerkandidatur zu Steinbrücks Kandidatur geführt hat. Wie war es damals wirklich?

Steinmeier: Für Säuernis besteht kein Anlass. Die, die es angeht, wussten, dass und warum ich zu einer Kandidatur nicht zur Verfügung stehe. Im übrigen war ohnehin vereinbart, dass zum Ende der Sommerpause 2012 Klarheit in der Frage des Spitzenkandidaten geschaffen sein sollte.

Das Erstaunliche an Angela Merkel ist ja, wie sie der anstehenden Wahl jedes kontroverse Thema entzieht. Warum tut sich die SPD so schwer, die Kanzlerin zu stellen?

Steinmeier: Es fällt uns nicht schwer, die Kanzlerin zu stellen. Das haben wir in verschiedenen Punkten getan. Mein wesentlicher Vorwurf ist: Die Kanzlerin hat dieses Land in vier Jahren in den Tiefschlaf geredet. Nur mit Stillstand und Abwarten kann man aber nicht das größte Mitgliedsland und die wichtigste Volkswirtschaft der Europäischen Union regieren. Was wir brauchen, ist eine Regierung, die etwas will. Union und FDP wollen nichts mehr. Wir wollen ein Land mit wirtschaftlichem Erfolg und sozialer Gerechtigkeit. Das ist unsere zentrale Botschaft.

Beispiel Familienpolitik: Alle wissen, dass Kinder unser aller Wohlstandsgarantie sind, für jeden Einzelnen sind sie aber ein Armutsrisiko. Wie will die SPD dies ändern?

Steinmeier: In der Familien- und Bildungspolitik liegt der Schlüssel für die Zukunft unserer Gesellschaft. Es ist nicht nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, nein, in einer Gesellschaft, in der es immer weniger Kinder gibt, werden wir es uns schlicht nicht mehr leisten können, dass auch nur ein einziges Kind in Schule und Ausbildung auf der Strecke bleibt. Aber immer noch werden jährlich 60 000 Kinder ohne einen einzigen Abschluss aus der Schule entlassen. Über eine Million junge Menschen sind in unseren Arbeitslosenstatistiken, die ohne Berufsausbildung sind. Wir müssen alle Anstrengungen darauf konzentrieren, dies zu ändern.

Was heißt das?

Steinmeier: Mehr Investitionen in Schule und Bildung. Ausbau der frühkindlichen Betreuung. Mehr Kitas und Kindergartenplätze. Gerade auch um Nachteile auszugleichen für Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund: ein größeres Angebot an Ganztagsschulen. Wir brauchen Schulen, in denen nicht der Putz von der Decke fällt. Und wir brauchen mehr Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der Bildungspolitik. Was wir nicht brauchen, ist eine Prämie, welche die Kinder aus den Betreuungseinrichtungen fernhält. Das Betreuungsgeld muss möglichst schnell vom Tisch.

Beispiel Europapolitik: Die Kanzlerin hat alle Probleme auf die Zeit nach der Wahl verschoben. Auch die SPD scheint nur den Weg in eine europäische Schuldenunion zu kennen. Wo ist die politische Alternative?

Steinmeier: Wer die Unterschiede sehen will, der sieht sie, und sie sind fundamental. Kanzlerin und Bundesregierung unterliegen dem Irrtum, dass Wege aus Krisen allein durch Sparen genommen werden können. Sie haben nicht einmal verstanden, wie dieses Land den eigenen Weg aus der Krise gefunden hat. Es ist nicht so lange her, als Deutschland als der kranke Mann Europas verspottet wurde. Damals hat eine Bundesregierung mit Mut gehandelt.

Sie meinen Rot-Grün unter Gerhard Schröder und die von Ihnen mit konzipierte Agenda-Politik.

Steinmeier: Ja, wir haben damals mit Haushaltsdisziplin regiert, und auch mit eingreifenden Strukturreformen, die uns viel Streit in den eigenen Reihen eingetragen haben. Vor allem aber haben wir den Wachstumspfad nicht verloren. Die heutige Bundesregierung glaubt, dass Europa ohne Wachstum gelingen wird. Darin unterscheiden wir uns fundamental. Der Verzicht auf wachstumsfördernde Maßnahmen in Europa ist die eigentliche Gefahr, vor der wir stehen.

Ist nicht das eigentliche Problem, dass die europäischen Länder zwar in einer Währung aneinander gebunden sind, aber eine politische Union versäumt wurde?

Steinmeier: Der Blick in die Vergangenheit hilft uns aktuell nicht weiter. Ich kann Helmut Kohl nicht vorwerfen, dass er 1990 dem Weg in den Euro zugestimmt hat, obwohl die politischen Voraussetzungen nicht sämtlich klar waren. Das war vermutlich mit Blick auf die Erwartungen europäischer Nachbarn unausweichlich, um den Weg in die deutsche Einheit zu erreichen. An den Geburtsfehlern müssen wir ohne Zweifel arbeiten. Aber die Anrufung der Vereinigten Staaten von Europa, so richtig das als Fernziel ist, wird uns im Augenblick weniger helfen.

Wie erklären Sie denn einem deutschen Sparer, warum durch die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank zwar die südeuropäischen Schuldenhaushalte stabilisiert werden, er aber kein Vermögen mehr für seine Altersvorsorge aufbauen kann?

Steinmeier: Die europäischen Regierungen waren leider nicht in der Lage, die Turbulenzen der europäischen Währungskrise in den Griff zu kriegen. In der Tat hat die Europäische Zentralbank Entscheidungen getroffen, zu denen sich Regierungen nicht entschließen konnten. Aber die ganze Wahrheit ist auch: Erst die Entscheidungen der europäischen Zentralbank zu Zinshöhe wie zum Umgang mit Schuldpapieren haben die Beruhigung mit sich gebracht, von der wir heute profitieren.

Und die Krisenstaaten?

Steinmeier: Die anderen Staaten haben so überhaupt erst die Möglichkeit erhalten, das an Strukturreformen in Angriff zu nehmen, was dort notwendig ist. Ein völliger Zusammenbruch der europäischen Währung, der ohne das Handeln der EZB gedroht hätte, hätte Europa, hätte Deutschland und damit auch dem deutschen Sparer nicht genutzt, sondern noch größeren Schaden angerichtet.

Sie waren selbst Kanzleramtsminister und Geheimdienstkoordinator. Was sagen Sie zur NSA-Spähaffäre?

Steinmeier: Wir haben es hier vermutlich mit dem größten Abhörskandal der jüngeren Geschichte zu tun. Ein Skandal, bei dem gemeinsame Grundwerte des Westens auf Respektierung der Privatsphäre verletzt worden sind. Und die Regierung sieht keinen Anlass, eine solche Abhörpraxis zu beenden. Das ist zu wenig. Das ist mangelnder Mut vor den Freunden.

Angenommen, nach dem 22. September ist Rot-Grün möglich: Was wären Ihre wichtigsten innenpolitischen Vorhaben?

Steinmeier: Eines hat Peer Steinbrück in den letzten Tagen immer wieder gesagt: Vorrangig wird für die SPD sein, ein von Union und FDP lange verhindertes Gesetzgebungsvorhaben endlich auf den Weg zu bringen: Nämlich dafür zu sorgen, dass wer regelmäßig zur Arbeit geht, auch von seinem Lohn leben kann. Da, wo ordentliche Tariflöhne nicht gelten, müssen wir das durch Mindestlöhne sicherstellen. Noch in diesem Herbst, möglicherweise noch vor der Wahl, werden wir weitere eruptive Bewegungen bei den Energiepreisen haben. Das chaotische Management der Energiewende gefährdet Wachstum und Arbeitsplätze. Zu den ersten Aufgaben einer neuen Regierung wird gehören, Energiepolitik in Deutschland wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Wir werden als Sofortmaßnahme die Stromsteuer um 25 Prozent senken, damit Verbraucher und Arbeitsplätze entlastet werden. Und dann fängt die Aufräumarbeit an.