Am Wochenende gab es in der Türkei einen Putschversuch durch Teile des Militärs. Wie beurteilst du diese versuchte Machtübernahme durch das Militär?
Die türkische Bevölkerung hat sich erfolgreich diesem Putschversuch widersetzt. Alle im türkischen Parlament vertretenden Parteien haben sich noch während der Ereignisse in der Nacht auf Samstag gegen eine Machtübernahme durch das Militär ausgesprochen. Viele Menschen sind auf die Straße gegangen, weil sie das undemokratische und brutale Vorgehen einiger Militärs nicht akzeptieren wollten. Das ist beeindruckend – und könnte die türkische Demokratie auf Dauer stärken.
Wahr ist aber ebenso, dass es auch auf Seiten einiger Zivilisten und Sicherheitskräfte zu Gewaltausbrüchen gegen bereits wehrlose Soldaten gekommen ist, die nicht zu rechtfertigen sind. Und wahr ist vor allem, dass wir seit Niederschlagung des Putsches Maßnahmen sehen, die nichts mit Demokratie und Rechtsstaat zu tun haben, sondern letzteren mit Füßen treten. Erdogan ist dabei, eine historische Chance zu vergeben, das polarisierte Land zu einen, die Demokratie zu festigen und wahre staatsmännische Größe zu zeigen.
Selbstverständlich muss der türkische Staat auch gegen die Putschisten vorgehen. Keine Regierung würde sich dieses Vorgehen bieten lassen. Die Täter müssen zur Verantwortung gezogen werden. Und dass in den ersten Stunden nach so dramatischen Ereignissen auch die Emotionen und damit die Rhetorik hochgehen, ist nachvollziehbar.
Staatspräsident Erdogan spricht jetzt von „Säuberungen“, und das Parlament berät über die Wiedereinführung der Todesstrafe …
Nur einen Tag nach dem Putsch tausende Richter und Staatsanwälte abzusetzen, ist unverhältnismäßig und steht im klaren Widerspruch zu demokratischen Verfahren. Die Namen der Betroffenen müssen bereits im Vorfeld auf Listen gestanden haben. Der Putschversuch wird hier als Vorwand und willkommene Gelegenheit genutzt, gegen Oppositionelle und Andersdenkende vorzugehen. Das ist äußerst besorgniserregend.
Ich hoffe, dass die Ankündigung, über die Wiedereinführung der Todesstrafe zu diskutieren, der Aufregung der ersten Stunden nach den Ereignissen geschuldet war und schnell wieder begraben wird. Die Wiedereinführung der Todesstrafe würde die Beitrittsperspektive der Türkei vorerst beenden. Denn ein Land, das der EU angehören möchte, kann nicht die Todesstrafe einführen. Das muss allen Beteiligten klar sein. Ich appelliere vor allem an die türkischen Parlamentarier, jeden Vorstoß in diese Richtung abzuwenden.
Was bedeuten die Ereignisse des Wochenendes für das deutsch-türkische bzw. EU-türkische Verhältnis?
Deutschland, die EU und die USA haben sich während des Putschversuchs unmissverständlich auf die Seite der türkischen Demokratie und Verfassung gestellt. Dass der Westen nun ebenso besorgt auf die unverhältnismäßige Reaktion auf den Putschversuch und die Entwicklung des türkischen Rechtsstaats blickt, ist nur konsequent. Bereits in den letzten Monaten hat es Entwicklungen in der Türkei gegeben, die äußerst problematisch waren und als solche von der europäischen Politik angesprochen wurden. Stichworte sind die Aufhebung der Immunität der türkischen Parlamentarier, die vor allem HDP-Abgeordnete trifft, die militärische Eskalation im Kurdenkonflikt oder der Umgang mit kritischen Journalisten und Medien.
Unsere Einwirkungsmöglichkeiten von außen auf die innenpolitische Lage in der Türkei sind begrenzt. Wichtig ist es, den Kontakt mit den Stimmen in der Türkei zu halten und auszubauen, die in demokratischer und gewaltfreier Opposition zur Regierung stehen und sich für Meinungs- und Pressefreiheit und Menschenrechte einsetzen. Die Entfremdung zwischen EU und Erdogan darf nicht zu einer Entfremdung mit dem ganzen Land führen. Eine öffentliche Unterstützung für Oppositionelle kann zudem vor Repression schützen. Klar ist, dass wir die Defizite in der Türkei in aller Deutlichkeit ansprechen müssen.
Gleichzeitig müssen wir anerkennen, dass das Nato-Mitglied Türkei in einer geopolitisch derart zentralen Lage liegt, mit Grenzen zu Syrien, Irak und Iran, dass sich Europa aus eigenem Interesse nicht leichtfertig erlauben kann, die Zusammenarbeit mit der Türkei einzustellen. Deswegen sollten wir auch den Einsatz der deutschen Bundeswehr auf dem Luftwaffenstützpunk in Incirlik nicht mit der innenpolitischen Situation in der Türkei vermischen, wie es derzeit zum Teil gemacht wird. Ziel des internationalen Militäreinsatzes ist der Kampf gegen die Terrormiliz IS. An dieser Bekämpfung des internationalen Terrorismus muss festgehalten werden; das hat uns zuletzt der schreckliche Anschlag in Nizza nur einen Tag vor dem Putschversuch schmerzhaft vor Augen geführt. Gleichwohl halte ich es vor dem Hintergrund als Parlamentsarmee für richtig, dass der Deutsche Bundestag auf seinem Besuchsrecht in Incirlik besteht.
Das Interview führte Johanna Agci