Herr Steinmeier, im August 2010 haben Sie Ihrer Frau Elke Büdenbender eine Niere gespendet. Wie geht es Ihnen heute?

STEINMEIER: Wirklich gut! Ich fühle mich fitter als vor der Organspende. Einschränkungen von ärztlicher Seite habe ich nicht, aber ich lebe doch ein bisschen gesünder.

Und Ihre Frau?

STEINMEIER: Das ist ein kleines Wunder. Wenn ich das vergleiche mit den Jahren vor der Operation, wirkt sie wie neugeboren. Sie hat Glück gehabt: Abstoßungsreaktion hat sie nicht erleben müssen. Drei Monate nach Transplantation und Reha konnte sie wieder als Richterin arbeiten. Und mit den Medikamenten, die jeder Transplantierte lebenslang zur Immununterdrückung nehmen muss, kommt sie ganz gut zurecht. Es ist ein neues Leben!

Ist sie Ihnen dankbar?

STEINMEIER: Schwieriges Thema! Die allermeisten gehen davon aus, bei der Lebendspende sei der Spender derjenige, der sich zu schwierigen Entscheidungen durchringen muss. Da ist auch etwas dran, aber die ganze Wahrheit ist: Gerade für den Empfänger ist der Entschluss, das Organ anzunehmen, unendlich schwierig.

Wie meinen Sie das?

STEINMEIER: Wie ich inzwischen von vielen anderen Fällen weiß, hadern die, die auf ein Organ angewiesen sind, lange mit der Frage, ob sie dem Vater, der Mutter, dem Bruder oder der Schwester die Entscheidung und den Verlust des Organs zumuten dürfen. Das darf man sich ruhig als einen ziemlich dramatischen Prozess vorstellen.

Sie sagen, auch dem Spender fällt der Entschluss nicht leicht. Wie schwer war er für Sie selbst?

STEINMEIER: Natürlich trifft man eine solche Entscheidung nicht ganz nebenbei. Völlig risikolos ist die Veranstaltung ja nicht. Aber ich hatte wegen der langen Krankheit meiner Frau Jahre Zeit. Ich war entschieden, als die Frage akut wurde. Angst hatte ich eher vor der Nachricht, dass ich – aus welchen medizinischen Gründen auch immer – als Spender nicht in Betracht komme. Als nach wochenlangen Voruntersuchungen endlich das erlösende Go kam, da war das ein Moment größten Glücks. Weil die Transplantation meiner Frau zu einem Leben mit neuer Qualität verhelfen konnte. Und auch, weil ich es als Geschenk empfinde, mich auf ein längeres gemeinsames Leben mit dem Menschen, den ich liebe, freuen zu können.

Herr Kauder, würden Sie Ihrer Frau eine Niere spenden?

KAUDER: Es ist nicht leicht, sich in die Lage zu versetzen. Meine Frau ist Ärztin. Ich kenne einige ihrer Patienten, die ein Spenderorgan bekommen haben. Zum Beispiel eine Frau, die vor einigen Jahren ein Herz erhalten hat. Sie hat das gut überstanden und kann wieder für ihre Familie da sein. Es ist großartig, sie heute zu sehen und mitzuerleben, was eine Organspende bewirken kann.

Also, was würden Sie tun?

KAUDER: Ja, ich würde meiner Frau eine Niere spenden. Und für die Zeit nach meinem Tod habe ich genauso wie Frank-Walter Steinmeier einen Organspendeausweis.

Das verbindet Sie mit rund 25 Prozent der Deutschen – einer Minderheit. Im vergangenen Jahr fanden sich hierzulande nur etwa 1200 postmortale Spender, während rund 11.000 Menschen auf der Warteliste stehen, im Schnitt sterben jeden Tag drei Menschen, die auf ein Spenderorgan warten.

STEINMEIER: Deshalb haben wir gemeinsam mit allen Fraktionen das neue Gesetz auf den Weg gebracht, nach dem jeder Bürger künftig regelmäßig aufgefordert werden soll, zur Organspende Stellung zu beziehen.

KAUDER: Wir wollen erreichen, dass sich mehr Menschen mit der Frage auseinandersetzen, möglichst schon in jungen Jahren.

Frau Dr. Käutner, glauben Sie, dass die Spenderzahlen durch das neue Gesetz steigen werden?

KÄUTNER: Ich denke nicht, dass wir in den Kliniken schnell etwas davon bemerken werden, also sicher nicht innerhalb des nächsten halben oder dreiviertel Jahres. Aber es ist in jedem Fall eine Chance, in Zukunft die Organspenderzahlen zu steigern.

Man hätte viel radikaler vorgehen können. Andere Länder – Belgien, Spanien, Österreich etwa – haben eine so genannte Widerspruchslösung: Jeder gilt als potenzieller Spender, der nicht das Gegenteil bestimmt hat.

KAUDER: Die Leute sollen sich nicht widersetzen müssen. Sie sollen sich für etwas entscheiden. Das Thema ist ohnehin mit Ängsten besetzt, die Regelung muss dem einzelnen daher Freiraum geben. Wir müssen ein positives Klima schaffen – ein Klima, in dem sich Menschen gern dafür entscheiden, Organspender zu sein.

Ging es nicht eher darum, bei diesem sensiblen Thema eine möglichst breite Mehrheit im Parlament zu bekommen?

STEINMEIER: Es ist wirklich eine Frage der Haltung. Für mich ist das eine so persönliche Entscheidung, dass wir keinen gesetzgeberischen Zwang ausüben sollten. Und die Praxis in Ländern mit Widerspruchslösung unterscheidet sich gar nicht so sehr von unserer: Auch dort wird de facto kein Organ entnommen ohne Gespräch mit den Angehörigen und gegen deren Willen.

Statt mehr Druck auszuüben hätte der Gesetzgeber ja auch mehr Anreize schaffen können, um Spender zu gewinnen.

STEINMEIER: Wir haben das diskutiert. Von der Gewährung von wirtschaftlichen Vorteilen bis hin zum Vorrücken auf der Warteliste. Ich selbst war dagegen.

KAUDER: Ich auch.

Warum? In Israel gilt inzwischen die Regelung, dass zur Spende bereite Bürger und ihre Angehörigen bevorzugt werden, falls sie selbst einmal ein Organ benötigen. Zehntausende von Bürgern sollen deshalb schon Spendeausweise beantragt haben.

STEINMEIER: Das wäre der Einstieg in eine Debatte, die dann kein Ende mehr findet. Solange die Zahl der Organe nicht ausreicht, wird es immer neue Länder geben, die immer neue Vorteile gewähren, irgendwann geraten wir dann in die Kommerzialisierung. Das wäre das Ende der Transplantationsmedizin.

Aber es ist doch keine Kommerzialisierung, wenn man es möglich macht, dass Angehörige bevorzugt werden. Der lebendige Frank-Walter Steinmeier konnte seiner Frau eine Niere spenden. Wäre ihm vorher ein Stein auf den Kopf gefallen, hätte seine Frau die Niere nicht bekommen dürfen, weil sie nicht ganz oben auf der Warteliste stand.

STEINMEIER: Richtig, aber das ist eine grundsätzliche Entscheidung. Wir haben vor mehr als eineinhalb Jahrzehnten beschlossen, bei der Spende nach dem Tode unbedingt die Anonymität zu wahren. Die Angehörigen des Spenders wissen nicht, wer der Empfänger ist, der Empfänger weiß nicht, woher das Herz, die Niere oder die Leber kommen, die in ihm arbeitet. Ich halte das für gut, weil die Auflösung der Anonymität uns in schwierige persönliche Konflikte führen würde.

Man muss als Spender also altruistisch denken?

KAUDER: Man bekommt ja etwas für seine Spendebereitschaft: Das Gefühl, dazu beizutragen, dass unsere Gesellschaft menschlicher wird. Es gibt Werte, die können Sie nicht mit Geld aufwiegen. Nicht alles, was ich tue, muss einen konkreten Vorteil für mich haben. Wir wollen keine Gesellschaft, in der nur das Fortkommen des Einzelnen zählt.

STEINMEIER: Wobei ich unterstelle, dass derjenige, der sich Gedanken über Organspende macht, auch überlegt: Ich könnte selbst irgendwann auf ein Organ angewiesen sein, und dafür muss ich hoffen, dass viele andere altruistisch gehandelt haben.

KÄUTNER: Außerdem ist es natürlich durchaus so, dass man mit einem Spenderausweis etwas für seine Angehörigen tut. Man nimmt ihnen eine sehr schwierige Entscheidung ab.

STEINMEIER: Das muss sich in der Tat jeder klarmachen: Wenn ich mich nicht persönlich entscheide, bedeutet das nicht, dass keine Entscheidung droht. Ich reiche sie faktisch nur weiter: Im Falle meines Todes werden dann meine Angehörigen gefragt, und das in einer dann ohnehin schon schwierigen Situation.

KÄUTNER: Oft wissen die Angehörigen überhaupt nicht, wie jemand zu dem Thema gestanden hat. Nicht nur, dass es keinen Spenderausweis gibt, sie kennen die Haltung des Verstorbenen nicht. Trotzdem sollen sie in seinem Sinne entscheiden.

Was macht man dann als Arzt?

KÄUTNER: Das sind lange und schwierige Gespräche, man versucht, gemeinsam mit den Angehörigen den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen zu ergründen. Manchmal hilft es auch, weitere Personen hinzuzuziehen. Ich erinnere mich an einen Fall: Ein junger Mann war gestorben, die Eltern waren verzweifelt, sie wollten keine Organspende, die wussten aber auch nicht, was ihr Sohne darüber gedacht hatte. Es war eine gute Freundin, die dann sagte: Doch, der wollte das. Alles in allem eine sehr belastende Konstellation.

KAUDER: Ich muss sagen: Ich bewundere die Ärzte, die diese Gespräche führen. Denn in aller Regel geht es ja nicht um Patienten, die schon lange schwer krank waren – also Fälle,  in denen allen klar ist, dass der Tod eine Erlösung wäre. Es geht um urplötzliche Ereignisse. Da stehen Angehörige vor dem völlig unerwarteten Verlust eines Menschen – und dann muss auch noch diese Frage geklärt werden. Das ist eine Herausforderung an die Ärzte, die ist enorm.

Bekommt man bei diesen Gesprächen Routine?

KÄUTNER: Nein. Man lernt Situationen besser zu verstehen, sich hineinzufühlen in die Angehörigen. Aber es bleibt emotional anstrengend.

Ist es Ihnen schon passiert, dass jemand einen Organspendeausweis hatte, gleichzeitig aber eine Patientenverfügung, die dem widersprach? Schließlich muss ein Spender auch nach dem Hirntod für eine gewisse Zeit beatmet werden, der Kreislauf muss stabil gehalten werden.

KÄUTNER: Nein, bei mir ist so etwas noch nicht vorgekommen.

STEINMEIER: Der Konflikt ist bekannt. Die neuere Generation von Patientenverfügungen nimmt darauf schon Rücksicht und hat zwei getrennte Antworten auf die Frage der lebensverlängernden Maßnahmen und der Organspende.

KAUDER: Wenn jemand sagt, er möchte am Ende „keine Schläuche“, dann meint er in der Regel, dass er keine langfristig lebensverlängernden Maßnahmen will. Da geht es nicht um kurzfristige Eingriffe.

Sind Sie sicher? Viele wollen doch auch nicht kurzfristig am Leben gehalten werden, sondern einfach in Ruhe sterben.

KAUDER: Das kann sein. Die Menschen sollten in ihren Erklärungen deshalb Klarheit für sich, ihre Angehörigen und die Ärzte schaffen, was sie konkret wollen. Jeder sollte sich damit im Detail beschäftigen.

Das gilt auch für die Frage, welchen Abschied man seinen Angehörigen ermöglichen möchte. Die letzten gemeinsamen Momente sehen ja anders aus, wenn jemand Organe spendet.

KÄUTNER: Wenn es zu einer Organspende kommt, dann besprechen wir mit den Angehörigen den weiteren Ablauf, und natürlich muss man ihnen die besondere Situation des Abschieds erklären. Dass der Patient ein schlagendes Herz hat, dass der Brustkorb sich hebt, weil der Körper beatmet wird, dass der Mensch aber dennoch hirntod ist – also tot. Theoretisch können die Angehörigen den Leichnam nach der Organentnahme noch einmal sehen. In der Praxis ist es aber sehr häufig so, dass sie vorher Abschied nehmen wollen. Wir sorgen dann dafür, dass ihren Bedürfnissen so weit es geht entsprochen wird. Aber auch hier wäre es gut, wenn man vorher in der Familie oder unter Freuden darüber sprechen würde, wie eine solche Situation aussehen würde.

KAUDER: Es geht darum, das Thema Tod in die Gesellschaft zurückzuholen. Jeder Mensch ist davon betroffen. Es ist die letzte Gerechtigkeit auf Erden und deshalb sollte man offen darüber reden, ihn nicht mit einem Mantel des Schweigens zudecken. Mich wundert immer wieder, wie die Menschen mit solchen existenziellen Fragen umgehen.

STEINMEIER: Richtig, die Entscheidung über die postmortale Spende gehört ins Leben.

Und sie muss intelligent dokumentiert werden. Bald bekommt jeder Versicherte die neue Gesundheitskarte mit Chip. Warum wird darauf nicht einfach gespeichert, ob der Besitzer spendewillig ist?

KAUDER: Frank Steinmeier und ich dachten, das sei genau die Lösung. Aber die technischen Voraussetzungen dafür fehlen noch.

Bitte?

KAUDER: Das hat uns auch gewundert, aber das dauert noch drei Jahre. Solange muss es eben immer noch die Lösung auf dem Papier sein. Und da ist es dann wichtig, dass man seine Bereitschaft zur Spende nicht als Geheimnis behandelt, dass man den Ausweis auch wirklich im Portemonnaie hat.

Die Gesundheitskarte ist womöglich nicht das einzige Baustelle beim Thema Organspende. Es gibt Kritik an der Deutschen Stiftung Organtransplantation: Ein Wirtschaftsprüferbericht hat zwar kein Fehlverhalten des Vorstands festgestellt, wohl aber Merkwürdigkeiten beim Umgang mit Geldern und Aufträgen. Müsste die DSO nicht effektiver kontrolliert werden, und zwar von demokratisch legitimierten Institutionen?

STEINMEIER: Das Thema Organspende ist zu sensibel, als dass wir uns Unregelmäßigkeiten erlauben dürften. Es steht daher völlig außer Frage, dass die Arbeit der DSO wirksam kontrolliert wird. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Aufsicht in Zukunft noch effektiver gestalten können.

KAUDER: Dieser interne Bericht, den Sie ansprechen, wirft durchaus Fragen auf. Davor wollen wir die Augen nicht verschließen. Bisher gibt es hierzu aber keine weiteren Stellungnahmen - weder von der zuständigen Aufsichtsbehörde, dem Land Hessen, noch von der DSO selbst. Ich sehe daher momentan kein Anlass, die im Transplantationsgesetz seit nunmehr zehn Jahren vorgesehene und bewährte Selbstverwaltung der DSO zu verändern oder gar aufzuheben und stattdessen eine Behörde einzurichten. Die DSO, das dürfen wir nicht vergessen, ist die tragende Säule für die Organisation von Organspenden in ganz Deutschland.

Aus Umfragen weiß man, dass viele Menschen Angst haben, sich für Organspende auszusprechen. Sie fürchten zum Beispiel, dass der Hirntod nicht der richtige Tod ist. Oder dass nach einem Unfall nicht mehr alles für sie unternommen wird.

KÄUTNER: Grundsätzlich sind Ärzte ja Ärzte geworden, weil sie Leben retten wollen und nicht, weil sie die Leute sterben lassen möchten. Wenn jemand in die Notaufnahme kommt, wird erst einmal alles Mögliche für ihn getan. Und wenn dann die Untersuchungen zeigen, dass wir es mit einer schweren Hirnschädigung zu tun haben, beraten alle beteiligten Ärzte in der Notaufnahme oder auf der Intensivstation, ob diese Schädigung noch mit dem Leben vereinbar sein wird.

Und wenn nicht?

KÄUTNER: Dann sprechen wir mit den Angehörigen, klären sie über die Schwere der Erkrankung auf und eruieren den mutmaßlichen Willen des Patienten. Solange der mutmaßliche Wille nicht geklärt ist, wird die Therapie fortgesetzt.

Irgendwann gibt es dann womöglich Anhaltspunkte dafür, dass jemand bereits hirntot sein könnte und Sie gehen daran, diesen Verdacht zu überprüfen. Die Hirntoddiagnostik ist ein aufwendiges Verfahren, bei dem zwei Ärzte mittels verschiedener Anzeichen feststellen müssen, dass alle Hirnfunktionen irreversibel erloschen sind. Können Sie verstehen, dass es Menschen gibt, die daran Zweifel haben?

KÄUTNER: Ich kann verstehen, wenn Menschen sich schwertun mit dieser Definition von Tod. Aber vieles, was da ins Feld geführt wird, ist sehr weit weg von der Praxis. Es gibt aktuell keine bessere Lösung. Und wenn jemand meint, der Herztod sei der richtige Tod, dann muss ich sagen: Ich habe es schon erlebt, dass ein Patient nach einem Herzstillstand wieder wach wurde. Nach dem Hirntod habe ich das noch nicht gesehen.

STEINMEIER: Das haben wir uns auch alles von den medizinischen Sachverständigen erklären lassen. Es gibt keine geeignetere Methode, den Tod festzustellen, auch keine sicherere.

Wir haben heute rund 15 Organspender auf eine Million Einwohner. Wie viele mehr wären ein Erfolg?

KAUDER: Jede zusätzliche Spende ist ein Erfolg, jede einzelne.