Zunächst stellte Steinbrück klar, dass es sich seiner Meinung nach nicht um eine Krise des Euro handele, sondern eher um eine Vertrauenskrise, eine Krise der Mitgliedstaaten. Der Euro hingegen sei nicht Ursache des Problems. Im Gegenteil: „Ich wette, dass es den Euro auch in zehn Jahren noch gibt“, bekannte Steinbrück. Zwar wolle er sich nicht festlegen, wieviele Länder ihn dann noch führten, aber der Euro bleibe bestehen.
Genauso wichtig wie der Fortbestand des Euros sei der Fortbestand der Banken. Alle Menschen, egal wie alt, egal welcher Berufsgruppe oder politischer Couleur zugehörig, alle hätten ein Interesse daran, dass die Banken, das „Arteriensystem“ der Welt, „keinen Schlaganfall“ bekomme. Das sei, so erklärte Steinbrück, keine devote Haltung gegenüber den Geldinstituten, sondern schlicht um zu verhindern, dass die Banken erodieren. „Das hätte uns 2008/2009 fast hinweggefegt.“ Darum hätten sie damals in der Großen Koalition zwei Konjunkturprogramme aufgelegt, deren Früchte bis heute tragen. Steinbrück wendete sich direkt an die Bürgerinnen und Bürger im Saal. „Erinnern Sie sich bitte: Die FDP war damals gegen alles, das vergessen die heute nur so gern.“ Philipp Rösler sei da ja noch „sehr jung“ gewesen. Er erinnere sich wohl nicht so genau.
"Wir müssen uns mehr anstrengen"
Es gehe bei der Krise um nichts Geringeres als die Systemfrage: Wer hat die Macht – entgrenzte Märkte oder demokratisch legitimierte Institutionen? „Der Kampf ist noch nicht entschieden“, sagte Steinbrück. Um die Märkte nicht völlig zu entfesseln sei es nötig, auf „supranationaler Ebene“ gemeinsame Regelungen zu finden. „Im Luftverkher haben wir Regeln, in der Schifffahrt gibt es Regeln, jeder Verkehr wird geregelt, nur der Finanzverkehr nicht.“ Das müsse sich ändern. Dazu gehöre neben der Umsatzsteuer auf Finanzgeschäfte auch die Überprüfung jedes neuen Finanzproduktes, ein Bankendienstleistungssektor, eine Stärkung des EU-Parlaments und der EU-Kommission, eine Stärkung der Binnennachfrage und vieles mehr.
Denn eine Fiskalkrise beginne schleichend, dann aber würde es Zug um Zug schlimmer, bis die Schwimmbäder und Bibliotheken eine nach der anderen schließen, Schulen und Straßen verkommen. Das würde natürlich keiner wollen, aber wenn es dann darum gehe, das Geld für solche kommunalen Leistungen auch bereitzustellen, wolle keiner zahlen.
Steinbrück warnte sein Publikum davor, zu glauben, es gehe immer so weiter mit dem Wohlstand. „Andere holen auf, die Schwellenländer wie Brasilien sind fleißig undf hungrig“, sagte er. „Wir müssen uns mehr anstrengen“. Das sei zwar unpopulär, aber ohne Fleiß gehe es nicht. „Wir dachten immer, wir hätten eine gewisse Dominanz, aber das stimmt nicht mehr, der Wohlstand wird neu verteilt in der Welt. Wir stehen am Scheideweg. Wollen wir mehr oder weniger Europa?“, fragte Steinbrück. Die Antwort sei klar, wenn man den Wohlstand behalten wolle: Nur mit einem starken und vereinten Europa lasse sich unser Niveau verteidigen.
Steinbrück begründete, warum Europa so wichtig ist:
„Eurpa ist die Antwort auf 1945 und zugleich auf das 21. Jahrhundert; es ist die Antwort auf den weltweiten Wandel.“ Den Jüngeren im Saal rief er zu, sie würden in einem „privilegierten Ausnahmezustand“ leben: kein Krieg und viel Wohlstand, offene Grenzen. „Schon ein Schüleraustausch war zu meiner Zeit so gar nicht möglich, heute können Sie von Polen bis Portugal einfach durchfahren“, sagte Steinbrück. Man müsse sich klarmachen, dass seine Generation, so erklärte es Peer Steinbück, die erste sei, die nicht in einem Krieg verheizt worden sei. Inzwischen herrsche seit 60 Jahren Frieden in Europa, das sei nicht selbstverständlich. „Haben Sie das alles schon vergessen? Empfinden Sie keine Dankbarkeit?“, fragte Steinbrück in den Saal. „Wir haben neun Nachbarn um uns herum, einige davon haben wir schon überfallen.“ Ohne deren Vertrauen und Hilfe wäre Deutschland heute nicht da, wo es ist. „Es geht uns immer nur so gut, wie es unseren Nachbarn gut geht“, betonte Steinbrück.
Und auch die Wiedervereinigung hätte es, so erklärte er, ohne Europa nicht gegeben.
Steinbrück fragte die Menschen: „Für die Wiedervereinigung haben Sie rund zwei Billionen Euro bezahlt. Und Europa ist Ihnen nicht mal ein Zehntel davon wert?“ Europa sei ebenso wie der Euro eine Erfolgsgeschichte. Er merkte an: „Mit Nationalwährungen wäre uns die Krise übrigens um die Ohren geflogen“. Darum sei eine D-Mark-Nostalgie fehl am Platz.
"Merkel hat keine Erzählung, was Europa ist"
Eine gemeinsame Währung habe so viele Vorteile, vom direkten Preisvergleich über den Wegfall nerviger Wechselkursproblematiken bis hin zu einem besseren Gemeinschaftsgefühl. Aber das habe eben auch seinen Preis. „Solidarität ist keine Einbahnstraße“, konstatierte Steinbrück. Wer mehr Europa wolle, müsse auch bereit sein, dafür zu zahlen. „Aber", so sagte er, das „ist gut investiertes Geld“. Natürlich müssten derartige Hilfszahlungen an andere Nationen an Bedingungen geknüpft werden: Die Nehmerländer müssten harte Reformen durchführen und sich massiv anstrengen.
Eine Haftungsgemeinschaft gebe es ohnhin schon, allein durch die Politik der EZB. „Da führt die Bundeskanzlerin Sie hinter die Fichte“. Das sei es, was ihn wirklich ärgerlich mache. Im März und April 2010 habe Merkel sich als eiserne Kanzlerin geriert und behauptet, die Griechen bekämen kein Geld, und es bedürfe keines neuen Rettungsschirmes. Jeder wisse, es kam anders. „Die Dame macht so schnelle Tanzschritte, dass man sie gar nicht mehr sieht“. Zwar seien einige Maßnahmen der Koalition richtig, doch sie kämen zu spät und zu zögerlich. „Was ich vermisse ist, dass Angela Merkel Ihnen dieses Europa erklärt, was es ist, warum es für uns alle so wichtig ist. Sie hat keine Erzählung über Europa, keine Idee. Was will sie?“ Politik bedeute letztlich, Verantwortung zu übernehmen, auch wenn nicht alle relevanten Informationen vorlägen. „Als Politiker müssen Sie immer Entscheidungen treffen, ohne vollständige Informationen zu haben. Das ist die Aufgabe von Politik.“