Nach Anhörung von 41 Zeugen in mehr als 145 Vernehmungsstunden - 80 Prozent davon auf Beschluss der Mehrheit hinter verschlossenen Türen - sind der Luftangriff von Kunduz in der Nacht vom 3. auf den 4. September 2009 und die Fehler und Versäumnisse der Bundesregierung im Umgang mit dieser folgenschwersten militärischen Aktion in der Geschichte der Bundeswehr weitgehend aufgeklärt.
Dieser Aufklärungserfolg ist allerdings nicht der Ausschussmehrheit von CDU/CSU und FDP zu verdanken, die sich einer sachgerechten und lückenlosen und vor allem ungeschönten Aufarbeitung des Vorfalls, wie sie von der Bundeskanzlerin früher einmal eingefordert worden war, bis zuletzt verweigert hat. Die Mehrheitsbewertung im Untersuchungsausschuss ist hierfür der beste Beweis.
Es bedurfte daher zwingend eines Sondervotums der SPD-Bundestagsfraktion, um den Ansprüchen der Öffentlichkeit, des Parlaments und auch der Soldatinnen und Soldaten gerecht zu werden, die eine wirkliche Aufarbeitung des tragischen Vorfalls zu Recht erwarten.
Mindestens 83 zivile Todesopfer, darunter mindestens 22 Kinder
Im Unterschied zur Bundeskanzlerin, die noch in ihrer Vernehmung im Ausschuss behauptet hat, zivile Opfer des Luftangriffs seien nicht "mit Gewissheit" nachgewiesen, ist dies nach der Beweisaufnahme dieses Ausschusses nicht mehr in Frage zu stellen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass ein ziviler Lastwagenfahrer, mindestens 22 Kinder unter 15 Jahren und mindestens 60 weitere Zivilisten aus umliegenden Dörfern durch den Luftangriff getötet worden sind.
Das Ziel des Luftangriffs: "Liquidierung" mutmaßlicher Taliban.
Nicht mehr zu halten ist auch die Legende eines defensiven Luftschlags, der nur dazu gedient habe, einen unmittelbar drohenden Angriff mit zwei Tanklastern als "rollende Bomben" auf das Bundeswehrlager in Kunduz zu rechtfertigen. Die Beweisaufnahme hat gezeigt, dass es sich vielmehr um ein offensives Vorgehen der Bundeswehr gehandelt hat. Mit der "Liquidierung" mutmaßlich gefährlicher Taliban sollte den Aufständischen ein "schwerer Schlag" versetzt werden.
Die Rolle der Angehörigen der Task Force 47
Neu beantwortet werden muss nach der Beweisaufnahme auch die Frage, wer welche Rolle in der Nacht vom 3. auf den 4. September 2009 gespielt hat: Es steht zwar fest, dass es sich nicht um eine Operation der Task Force 47 (TF 47) gehandelt hat, sondern die Entscheidung zum Waffeneinsatz in dieser Nacht ausschließlich durch Oberst Klein zu verantworten ist. Jedoch ist in der Beweisaufnahme deutlich geworden, dass Angehörige der TF 47 in großem Maße die Entscheidungen von Oberst Klein beeinflusst haben.
Die TF 47 ist eine deutsche Spezialkräfteeinheit, zu deren Auftrag es gehört, Informationen über Personen in Afghanistan zu sammeln, die mit Anschlägen auf ISAF oder afghanische Staatsgewalt in Verbindung stehen. Auch kann sie gegen diese Personen aktiv vorgehen, allerdings nur mit dem Ziel, sie festzusetzen, keinesfalls sie zu töten. Das liegt an einer besonderen deutschen Selbstverpflichtung, die für Kräfte anderer Nationen nicht gilt.
Die Beweisaufnahme hat ergeben, dass Hauptmann N. (TF 47) die Suche nach den Tanklastern bei Oberst Klein angeregt hatte, weil er die Zuverlässigkeit seines TF 47-Informanten überprüfen wollte. Nachdem die Tanklaster durch den B1-Bomber gefunden worden waren, schlugen er und der Fliegerleitoffizier W. (JTAC) Oberst Klein nach dessen Aussage einen unmittelbaren Waffeneinsatz durch den B1-Bomber vor, der zu diesem Zeitpunkt von Oberst Klein noch abgelehnt wurde.
Bei dem Vorschlag spielte auch eine Rolle, dass der Informant inzwischen berichtet hatte, es befänden sich vier Talibanführer und deren Anhänger vor Ort, die man in der TF 47 "auf dem Schirm hatte".
Obwohl sich das taktische Lagebild danach nicht veränderte, freundete sich Oberst Klein offensichtlich immer mehr mit dem Vorschlag des Waffeneinsatzes an und gab ihn schließlich - mehr als eine Stunde später - frei.
In diesem Fall führte das Zusammenwirken von PRT Kunduz und Task Force 47, das bisher nur mit der besseren technischen Ausstattung der TF 47 begründet wurde, offensichtlich zu einer gefährlichen Verschmelzung der Interessen, obwohl Aufgaben und Befugnisse der beiden Bereiche strikt zu trennen sind und es Oberst Klein an den notwenigen Kenntnissen zur Durchführung eines solchen offensiven Waffeneinsatzes fehlte.
Der fatale Umgang mit dem "HUMINT"-Kontakt
Als besonders problematisch hat sich der Umgang der Mitarbeiter der TF 47 und von Oberst Klein mit dem afghanischen Informanten, dem sogenannten "HUMINT-Kontakt", herausgestellt:
- Nicht alle Informationen, welche die HUMINT-Quelle lieferte, erreichten Oberst Klein. So erfuhr dieser nach eigenen Angaben nichts davon, dass die Aufständischen vorhatten, die Tanklaster "auszuschlachten" und "in Brand zu setzen"; er erfuhr nichts über den Verbleib der zivilen Lastwagenfahrer, über den nach Aussagen von Zeugen jedoch in der Nacht gesprochen worden sein soll; er erfuhr auch nichts darüber, dass die Kontaktperson gar nicht vor Ort war, sondern nur Erkenntnisse von ominösen "Subkontakten" weiterleitete, über deren Hintergründe niemand in dieser Nacht etwas näheres wusste.
- Hinzu kommen der problematisch lange Weg, den die Informationen nehmen mussten, bis sie Oberst Klein erreichten ("Stille-Post-Routine"), sowie erhebliche Defizite im Bereich der "zielgerichteten Gesprächsführung" mit der HUMINT-Quelle. Denn es wurde erkennbar, dass die Fragen, die der Kontaktperson gestellt worden sind, zu einem großen Teil weder sachgerecht noch zielführend ausgewählt worden waren.
- Vor allem aber haben sich erhebliche Fehler im Rahmen der sachgerechten Bewertung der Informationen gezeigt: Die wiederholte Aussage der Quelle, sämtliche Personen an den Tanklastern seien Taliban, konnte zu keinem Zeitpunkt in dieser Nacht anderweitig bestätigt werden. Sie wurde allein auf Grund eines eher als "Bauchgefühl" zu bezeichnenden "Erfahrungsschatzes" von Oberst Klein als besonders glaubwürdig eingeschätzt. Dabei wurde aber übersehen, dass alleine die "siebenfache" Bestätigung einer Information durch ein und dieselbe Quelle die Glaubwürdigkeit einer Information nicht "siebenfach" verstärkt.
Die Beweisaufnahme hat erkennbar werden lassen, dass im Bereich des Militärischen Nachrichtenwesens der Bundeswehr faktisch wie in einem Nachrichtendienst operiert wird, indem Methoden und Mittel eingesetzt werden, die eigentlich für nachrichtendienstliches Handeln wesensbestimmend sind. Hier haben sich erhebliche Koordinierungs- und Kontrollprobleme gezeigt, die durch die Bundesregierung und den Gesetzgeber gelöst werden müssen.
Bewertung des Luftangriffs
Oberst Klein handelte in dieser Nacht unter höchster Anspannung, weil seine Soldaten den Tag über in schwersten Feuergefechten standen. Er fühlte sich zudem von seinen Vorgesetzten unter Druck gesetzt, die von ihm nach seiner Wahrnehmung einen "aktiven Einsatz" erwarteten.
Menschliches Verständnis für die eindeutige persönliche Überforderung des militärischen Führers in dieser Nacht kann aber nicht dazu führen, die begangenen Fehler und Versäumnisse zu ignorieren oder nicht klar zu benennen.
Niemand kann heute mehr behaupten, Oberst Klein habe in der damaligen Situation die richtigen Entscheidungen getroffen. Er hat gegen NATO-Einsatzregeln und gegen nationale Vorgaben zum Einsatz militärischer Gewalt verstoßen, die gerade deshalb existieren, damit solche Vorfälle mit einer Vielzahl ziviler Opfer möglichst vermieden werden:
- Luftnahunterstützung hätte nicht unter Hinweis auf "Troops in Contact" angefordert werden dürfen und der Waffeneinsatz hätte gegenüber den Piloten auf eine klare Einsatzregel gestützt werden müssen.
- Oberst Klein hatte nicht die erforderliche Befugnis zum Waffeneinsatz, sondern er hätte RC North, General Vollmer, einschalten müssen.
- Der im PRT vorhandene Rechtsberater wurde pflichtwidrig nicht beteiligt.
- Die Menschen an den Tanklastern wurden nicht eindeutig als legitime militärische Ziele identifiziert.
- Sowohl Oberst Klein als auch dem JTAC fehlte es an den erforderlichen Kenntnissen der anzuwendenden Verfahren der Ziel- und Wirkungsanalyse und es wurde regelwidrig versäumt, weitere Stellen im Rahmen des Systems der gegenseitigen Kontrolle und Verantwortung in die Entscheidung einzubinden.
- Pflichtwidrig wurde auf die von den F15-Piloten empfohlene Durchführung einer "abschreckenden Machtdemonstration" ("Show of Force") verzichtet.
Wären diese Verfahrensfehler nicht begangen worden, hätte der Luftangriff so nicht stattgefunden.
Politische Verantwortung Jung
Die offensichtlich mangelhafte Ausbildung der beteiligten Soldaten hinsichtlich der korrekten Anwendung der NATO-Einsatzregeln und der nationalen Einsatzvorgaben sowie die Defizite im Verständnis der völkerrechtlichen Rahmenbedingungen sind politisch vom damaligen Bundesminister der Verteidigung Franz-Josef Jung zu verantworten.
Weiterhin sind Jung auch gravierende politische Fehleinschätzungen vorzuwerfen. Diese Fehler haben dazu geführt, dass die Vorgänge aus falsch verstandener Loyalität heraus eher vernebelt als aufgeklärt wurden. Dieses Verhalten hat der Bundesregierung und dem Ruf der Bundeswehr geschadet. Insbesondere der Pressestab, dem Jung allzu freie Hand gelassen hat, trifft die Verantwortung für eine desaströse Öffentlichkeitsarbeit.
Unsinn ist es dagegen, dieses Versagen Generalinspekteur Schneiderhan und Staatssekretär Wichert in die Schuhe zu schieben. Das schafft die Ausschussmehrheit in ihrem Bewertungsteil denn auch nur, indem sie Pflichten für den Generalinspekteur erfindet, die es tatsächlich nicht gibt.
Politische Verantwortung des Freiherrn zu Guttenberg
Freiherr zu Guttenberg vermochte es, die Illusion von sachlicher Kompetenz und Lernfähigkeit, von Verantwortungsbereitschaft und Gradlinigkeit, von Aufrichtigkeit und moralischer Unbestechlichkeit zu erzeugen, obwohl sich objektiv geradezu das Gegenteil manifestierte, wenn man nur genauer hinschaute:
- Seine erste öffentliche Bewertung des Luftangriffs vom 6. November 2009, wonach es selbst dann, wenn es keine Verfahrensfehler gegeben hätte, zum Luftschlag hätte kommen müssen, hat sich als grobe persönliche Fehleinschätzung herausgestellt. Um sich bei den Soldaten beliebt zu machen, setzte er sich über die Bewertung des Generalinspekteurs eigenwillig hinweg. Nachdem sich dies als Fehler herausstellt hatte, versuchte er die Verantwortung hierfür auf General Schneiderhan abzuwälzen.
- Auch seine öffentliche Begründung für die "Entlassung" von Schneiderhan und Dr. Wichert, diese hätten ihm für die Bewertung des Luftangriffs wesentliche Dokumente vorenthalten, war nur vorgeschoben, um sich des Drucks, der durch die "Bild"-Zeitung mit der Ankündigung der Veröffentlichung des Feldjägerberichts entstanden war, effektiv zu entledigen.
- Selbst die angebliche umfassende und sorgfältige "Neubewertung" des Luftangriffs vom 3. Dezember 2009 ist bei näherem Hinsehen nur eine Illusion. Die vorgeblich vorenthaltenen Berichte enthielten keinerlei zusätzliche Erkenntnisse gegenüber dem ihm von Anfang an bekannten COMISAF-Bericht.
Politische Verantwortung der Bundeskanzlerin
Vier Tage nach dem Luftangriff von Kunduz hatte Bundeskanzlerin Dr. Merkel im Bundestag eine "lückenlose Aufklärung" versprochen. Sie stehe dafür ein, dass dabei "nichts beschönigt" werde. Dieses Versprechen hat sie nicht einmal im Ansatz gehalten.
Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Bundeskanzlerin Distanz zum umstrittenen militärischen Vorfall gewahrt hat, um die Verantwortung allein auf die beiden überforderten Amtsinhaber im Verteidigungsministerium abzuwälzen. So trägt sie deren wechselnde Bewertungen des Luftangriffs bis heute mit und vermeidet es, eigene Schlussfolgerungen aus dem Vorfall zu ziehen. Die Aufklärung schiebt sie auf den Bundestag ab. Ihrer Führungsverantwortung als Regierungschefin, auf die sie sich bei der Dramatik und Schwere des Vorfalls auch für das internationale Ansehen der Bundeswehr hätte besinnen müssen, wird sie damit nicht gerecht.
Mit dieser Vorgehensweise, wie sie sich zuletzt auch in der Bewertung durch die Ausschussmehrheit gespiegelt hat, beschreitet die Bundesregierung einen gefährlichen Weg. Die lässige Interpretationsbreite, die auch die Bundeskanzlerin zur Schau stellt, führt dazu, dass das Verhalten der beteiligten Soldaten trotz aller Verstöße gegen internationale und nationale Einsatzvorgaben als akzeptabel angesehen wird.
Die Bundesregierung hat die Frage zu beantworten, ob die von ihr immer wieder betonte Geltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei der militärischen Gewaltanwendung durch deutsche Soldaten und das dadurch bedingte nationale Verbot der gezielten Tötungen noch Geltung hat, oder ob sich die Bundesregierung inzwischen bewusst von diesen Vorgaben für den Einsatz deutscher Soldaten im Rahmen der "militärischen Kultur der Zurückhaltung" entfernt hat.