Frau Bundeskanzlerin, bei aller Schärfe der Auseinandersetzung gehört es Gott sei Dank immer noch zur politischen Kultur unseres Landes, dass wir uns jenseits der Rolle und jenseits der Funktion, die wir im politischen Betrieb innehaben, achten und respektieren. In der vergangenen Woche hat uns die Nachricht vom Tod Ihres Vaters erreicht. Das ist ein tiefer Einschnitt. Ich möchte Ihnen im Namen der gesamten Bundestagsfraktion unser tiefes Mitgefühl aussprechen.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Dennoch: Es ist Haushaltswoche, und Demokratie – das wissen Sie alle – verlangt nun einmal den Wettstreit zwischen Regierung und Opposition. Es ist Aufgabe der Opposition, die Regierung zu kontrollieren, Fehler und Versagen aufzuzeigen und Finger in Wunden zu legen. Sie können erwarten, dass wir das mit Ernsthaftigkeit tun. Nur eines geht nicht, verehrter Herr Finanzminister, verehrter Herr Schäuble: Sie können sich nicht wie gestern hier an das Rednerpult begeben und sagen: Seht her! Alles prima! Toller Haushalt! Wir haben die Arbeitslosigkeit reduziert! Wir haben den Staatshaushalt wieder ins Gleichgewicht gebracht!

– Klatschen Sie nicht zu früh. – Wen meinen Sie eigentlich mit „wir“, Herr Finanzminister?

– Schön, dass Sie an dieser Stelle auch klatschen.

Glauben Sie eigentlich ernsthaft, dass Ihr seit zwei Jahren anhaltendes tägliches Koalitionschaos auch nur im Geringsten einen Beitrag dazu geleistet hat?
Wenn die Konjunktur gut läuft und die Steuereinnahmen wieder fließen, dann nicht wegen dieser Regierung, sondern trotz dieser Regierung. Das wissen alle in diesem Lande.

– Das gefällt Ihnen jetzt nicht ganz so gut. Das weiß ich.

Wenn das alles so toll ist, wie Herr Schäuble das gestern gesagt hat – Herr Fricke hat das mit seinem halbstarken Auftritt von dieser Stelle aus auch noch unterstützt –,warum steht die Koalition dann so da? Wenn das alles so toll ist und Sie alle miteinander so tolle Hechte sind, warum werden dann nicht schon längst die Sockel für Ihre Denkmäler gebaut?

Baustellen sehe ich viele, nur keine, bei denen es um Heldenverehrung geht. Das kann ich Ihnen schon jetzt sagen.

Verehrt worden sind Sie allenfalls für das, was Sie vor der Wahl versprochen haben, aber nicht für das, was Sie getan haben. Sie haben massenhaft Enttäuschung hinterlassen. Die Leute trauen Ihnen nichts mehr zu. Sie trauen Ihnen so, wie Sie jetzt dastehen, noch nicht einmal zu, dass Sie so bis 2013 weiterstolpern. Nicht einmal das, meine Damen und Herren!

Herr Schäuble, ganz ernsthaft: Sie persönlich verbiegen sich doch ein bisschen, wenn Sie auf die gemeinsamen Leistungen dieser Koalition hinweisen. Ich will Ihren persönlichen Beitrag in den vergangenen Jahren überhaupt nicht bestreiten, aber was bitte ist denn der Beitrag Ihres Koalitionspartners?

Wo war die FDP in der Krise nach der Pleite von Lehman Brothers? Was hat die FDP zur Überwindung der Krise getan? Sie mögen vielleicht, da Sie sich in der Koalition befinden, ein bisschen nachsichtiger sein, Herr Schäuble. Ich hingegen habe nichts vergessen. Hier saßen sie alle, Herr Brüderle, Herr Westerwelle und der ganze Rest der FDP, und haben gegen alles gestimmt, was uns aus dieser Krise herausgeführt hat.
Wenn eine Partei keinen Grund hat, stolz zu sein auf diese wirtschaftliche Lage und diesen Haushalt, dann ist das die FDP.

Die ganze Wahrheit ist – auch das kann ich Ihnen an dem heutigen Tage nicht ersparen –: Wenn es Deutschland heute besser geht als den meisten unserer europäischen Nachbarn – das weiß inzwischen jeder außerhalb der Regierungsfraktionen –, dann – sagen Sie es ruhig; Sie wissen es doch auch –, weil wir unsere Hausaufgaben lange vor den anderen gemacht haben und weil wir einen sozialdemokratischen Kanzler hatten, der gesagt hat: Erst das Land und dann die Partei.

Ich gönne es Ihnen allen ja, weil es dem Land guttut. In Wahrheit ernten Sie aber die Früchte dessen, was Sie nie gesät haben. So ist es doch.

Herr Schäuble, ein Zweites zu Ihrer Rede von gestern: Ich stelle – das wissen Sie – Ihre europapolitische Haltung nicht infrage. Ich füge ausdrücklich hinzu: Das unterscheidet Sie wohltuend von vielen anderen in den Regierungsfraktionen. Ich muss Ihnen aber auch sagen: Ich bin erstaunt, mit welchem Selbstbewusstsein Sie hier vortragen, was in der Europapolitik angeblich richtig und was angeblich falsch ist. Herr Schäuble, wenn eines in der ganzen Republik aufgefallen ist, dann, dass diese Regierung vieles hat, nur keine gemeinsame Linie in der Europapolitik. Die hat sie nun wirklich nicht.

Vermutlich ist das der tiefere Grund dafür, dass Sie, Herr Schäuble, sagen – das haben Sie auch gestern gesagt –: Bloß nichts überstürzen. Sie werben hier für eine Politik der kleinen Schritte. Was wir erleben, ist aber keine Politik der kleinen Schritte. Das ist eine Politik des periodischen Dementis. Das ist Ihre Europapolitik.

Ich werfe Ihnen gar nicht vor, dass Sie immer mit sechs Monaten Verzögerung auf die Linie gehen, die wir in diesem Parlament vertreten haben.

Meine Damen und Herren, ich will Ihnen eine kleine Erinnerungshilfe geben: Vor gut einem Jahr hieß Ihre Botschaft: Keinen Cent für Griechenland. – Daraus wurden Milliarden Euro.

Dann hieß Ihre Botschaft: Der Rettungsschirm wird nie gebraucht. – Dann kamen Irland und Portugal. Dann war die Wirtschaftsregierung Teufelszeug. – Seit dem letzten Treffen von Frau Merkel mit Herrn Sarkozy gilt das Gegenteil.

An das Tollste sei ebenfalls erinnert: An der Forderung nach der Besteuerung von Finanzmärkten haben Sie noch vor gut einem Jahr in diesem Haus mögliche gemeinsame Mehrheiten scheitern lassen. Heute sind Sie unserer Meinung, nur die FDP fällt Ihnen in bewährter Form in den Rücken. Das ist die Wahrheit.

Ich weiß nicht, ob Sie es selbst merken, aber keine Ihrer Botschaften hat länger als sechs Monate gehalten. Das ist der tiefere Grund für den Verlust von Glaubwürdigkeit. Gestern sagten Sie mit scheinbar ganz großer Klarheit: Mit uns gibt es keine Euro-Bonds. Sie dürfen sich am Ende nicht wundern, wenn dies in der Öffentlichkeit geradezu als die Ankündigung von gemeinsamen Anleihen verstanden wird.

Herr Schäuble, ich sage in aller Fairness: Diese kommen; zum Beispiel mit dem Gesetz, das Sie selbst in diesem Deutschen Bundestag über den EFSF vorlegen. Es eröffnet die Möglichkeit, dass eine europäische Einrichtung – nicht die EZB – Anleihen auf dem Sekundärmarkt ankauft. Was ist das anderes als genau solche gemeinsame Anleihen?

Herr Schäuble, ich sage es noch einmal: Dass dies dort steht, werfe ich Ihnen nicht vor. Ich glaube auch, dass ein solches Instrument gebraucht wird. Dass Sie aber gestern von diesem Pult aus noch einmal so tun, als seien Sie der letzte aufrechte Kämpfer gegen eine gemeinschaftliche Haftung, ist Ausdruck der Unwahrhaftigkeit, über die ich rede.

Ich verstehe die Not, die man als Regierung manchmal hat, wenn es darum geht, die eigenen Leute bei der Stange zu halten. Herr Schäuble, ich bin mir aber ganz sicher, dass Sie wissen, dass Sie den Menschen etwas vormachen, wenn Sie – wie gestern noch einmal – gemeinsame Anleihen völlig tabuisieren und Euro-Bonds in jeglicher Form ausschließen. Auch dies sei an dieser Stelle gesagt: Sie wissen, dass Sie die Unwahrheit sagen, wenn Sie – wie gestern hier – die Behauptung aufstellen, die SPD sei für die unkonditionierte Einführung dieses Instruments. Ich gebe Ihnen gern noch einmal meine Interviews dazu. Ich sage Ihnen: Das geht nur dann, wenn Durchgriffsmöglichkeiten auf das Ausgabeverhalten jener Staaten bestehen, die Hilfe in Anspruch nehmen. Lesen Sie das bitte im Spiegel nach.

Sind Sie Spiegel-Leser? – Ich vermute: ja. Herr Westerwelle, lesen Sie es bitte nach.

– Das ist vielleicht Ihre Alternative. Ich würde nicht die Bundeswehr schicken, aber ich würde vielleicht auf vertragliche Anpassungen setzen.

(Rainer Brüderle [FDP]: Kavallerie!)

Das sagt Ihr Finanzminister auch.

Herr Schäuble, ich verstehe Ihre Rede von gestern hier in diesem Parlament, jedenfalls den Teil, der an die Opposition gerichtet war, überhaupt nicht. Natürlich ist es auch einem Finanzminister nicht verboten, den politischen Gegner zu beschimpfen, wie Sie das getan haben. Die Frage, die ich Ihnen stelle, ist nur: Ist das am Ende wirklich klug? Ich habe angenommen, dass Ihr Bemühen hier im Bundestag darauf gerichtet sei, eine möglichst breite Mehrheit unter den Fraktionen zu finden. Wenn es Ihnen darum geht und wenn es Ihnen um Europa geht, dann müssten Sie hier in diesem Parlament eigentlich anders auftreten, dann müssten Sie um Zustimmung werben. Ob das besser gelingt, wenn Sie diejenigen, die Ihnen für die EFSF Unterstützung signalisiert haben, auch noch vor den Kopf stoßen, das mag Ihr Geheimnis bleiben. Sie werden im Zweifel wissen, was Sie tun. Ich sage Ihnen nur: Die Rede, die Sie gestern hier gehalten haben, hätten Sie im eigenen Koalitionsausschuss halten sollen. Da sind Belehrungen notwendig, hier nicht!

So weit zu der gestrigen Einbringung.

Nun ist es natürlich verführerisch, in dieser Haushaltswoche noch einmal die ganze Bilanz dieser Regierung – vom Hoteliersprivileg über Guttenberg bis zum Skandal des Beitragsstopps für die Arbeitgeber bei der Krankenversicherung – anzuführen. Aber ich will mich nicht lange damit aufhalten. Das sind Fehlleistungen am Stück dieser Bundesregierung. Würde ich damit beginnen, käme ich zu nichts anderem mehr. Ich habe es von diesem Pult aus auch schon mehrfach getan. Das Urteil der Öffentlichkeit steht längst fest. Ich ahne, was Ihnen am meisten wehtut – Sie wissen es –: Keine Bundesregierung hat jemals eine so katastrophale Halbzeitbilanz abgeliefert wie Sie. Sie haben es zigfach in den Zeitungen gelesen: Das ist die schlechteste Regierung seit Jahrzehnten.

Ich habe dem nichts hinzuzufügen.

Deshalb verzichte ich auf diese Aufzählung; ich erspare es Ihnen ja. Ich mache etwas ganz anderes. Mir geht es jetzt gar nicht darum, Ihr Handeln noch einmal im Einzelnen in Erinnerung zu rufen, auszuleuchten und zu bewerten. Je länger ich Sie alle, die Regierungsfraktionen und die Regierung, miteinander werkeln sehe, desto mehr wird mir klar, dass nur eines noch schlimmer ist als Ihr Handeln, und das ist Ihr Nichthandeln. – Herr Kauder, dass Ihre Fraktion so viel Kauderwelsch redet, wundert mich nicht.

Wir befinden uns mitten in der tiefsten Existenzkrise der Europäischen Union, wir leiden an den Folgewirkungen einer Finanzkrise, die 2008 begonnen hat und nicht zu Ende ist. Das alles verlangt Tatkraft der Regierung. Aber Sie sitzen auf Ihren Händen und streiten, im Kern ja nicht einmal mit der Opposition, sondern untereinander; das war bis vorgestern Abend und bei der Probeabstimmung ganz offenbar.
Ich erinnere mich an vergleichbare Debatten, die wir im letzten Jahr hier zweimal geführt haben. Herr Kauder, auch da haben Sie sich zu Wort gemeldet. Sie haben gesagt, es provoziere, wenn ich hier sage, dass das Nichthandeln gefährlich ist und dass man die EZB in eine Situation bringt, handeln zu müssen, weil Regierungen nicht handeln. Das haben Sie damals gesagt. Schauen Sie sich einmal heute das Ergebnis an!
Anleihen im Wert von weit über 120 Milliarden hat die EZB aufgekauft. Warum? Weil politische Entscheidungen der Regierungen, auch der deutschen Regierung, fehlten, weil Mut fehlte und es keine Führung gab. Das ist das Problem, in dem wir uns befinden.

Vor einem Jahr haben Sie noch so getan, als sei es Ausdruck von besonderer Klugheit oder gar Strategie. Ich sage Ihnen: Aus meiner Sicht gab es wahrscheinlich auch wegen des Ausfalls der Regierungen gar keine Alternative für die EZB. Aber eines bleibt am Ende sicher: Das, was im letzten Jahr durch die Politik der EZB geschehen ist, ist der Aufbau von gemeinsamen Risiken und gemeinsamer Haftung. Das ist durch Nichthandeln geschehen. Wir werden als Deutscher Bundestag nicht einmal die Möglichkeit haben, dazu irgendetwas zu sagen oder in einem Ausschuss Entscheidendes dazu zu beraten. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
Damit bin ich nur bei dem Punkt, dass Nichthandeln etwas kostet. Nichthandeln hat aber vor allen Dingen einen politischen Preis, und dieser politische Preis ist Vertrauen. Diesen Preis zahlt nicht nur eine Regierung in Agonie; deshalb dürfen Sie auch nicht allein darüber verfügen. Was hier vielmehr bedroht ist, das ist das Vertrauen in Demokratie, wenn eine Regierung seit einem Jahr so orientierungslos herumstolpert. Es darf Sie nicht wundern, dass 74 Prozent der Deutschen die Politik – nicht nur die Regierung, sondern die Politik – nur noch als Getriebene der Märkte sehen. Drei Viertel der Deutschen trauen weder Regierung noch Parlament, also der Politik insgesamt, zu, über die Geschicke unseres Landes wirklich zu befinden.

Das ist der alarmierende Befund, meine Damen und Herren. Über den müssen wir hier in diesem Hause reden, über nichts anderes.

Ich sage Ihnen voraus: Das hat Konsequenzen für Regierungspolitik. Wenn es uns nicht gelingt, wieder Regeln an die Stelle von Regellosigkeit zu setzen, wenn es uns nicht gelingt, Vernunft und Verantwortung wieder zu Maßstäben in der Politik zu machen, dann bleiben die Leute bei den Wahlen zu Hause, und das geht an die Grundfesten der Demokratie. Das dürfen wir nicht zulassen, alle miteinander, unabhängig davon, ob wir einer Regierungsfraktion oder der Opposition angehören.

Wie behauptet sich Politik gegen Märkte, die jedes Maß, jede Mitte verloren haben? Das Recht muss doch wohl den Markt regeln und nicht umgekehrt.

Da gibt es einige bei Ihnen, die von Freiheit sprechen, aber nicht sagen, dass ohne Regeln die Freiheit für die meisten vor die Hunde geht. Das ist doch das Problem.

Ich habe das so verstanden: Um diese Ordnung der Freiheit geht es auch im heutigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Darum geht es auch bei den Beteiligungsrechten des Parlaments im Hinblick auf die EFSF. Weil das eine Kernfrage ist, die das Selbstverständnis dieses Hauses berührt, erwarten wir von Ihnen, Herr Kauder und Herr Brüderle, dass Sie gemeinsam mit uns, mit den Oppositionsfraktionen, nach Lösungen suchen, die von einer breiten Mehrheit in diesem Hause getragen werden können.

Das ist eine Bringschuld der Regierungsfraktionen, keine Holschuld der Opposition.

Die Zeitenwende, in der wir sind, dürfte auch an Ihnen nicht ganz vorbeigegangen sein. Früher haben Sie sich über Attac und manch anderen Globalisierungsgegner aufgeregt. Nervös, mindestens nachdenklich müsste Sie doch machen, wenn Menschen wie Jürgen Heraeus oder Franz Fehrenbach die Politik auffordern – am letzten Wochenende geschehen –: Legt doch endlich mal diese wild gewordenen Finanzmärkte an die Kette!
Zu denken geben müsste Ihnen auch, wenn Vermögende in ganz Europa plötzlich dazu aufrufen: Besteuert uns! Ich weiß nicht, ob Sie es merken, Herr Kauder: Außer Ihnen gibt es in ganz Europa keine einzige Regierung, die trotz Verschuldung in dieser Situation noch Steuersenkungen verspricht. Das gibt es in Europa nicht!

Die Grundfrage nach dem Verhältnis von Politik und Märkten, bei der ich bin, und die Selbstzweifel, die es diesbezüglich offensichtlich auch im bürgerlichen Lager gibt, sind das, was Frank Schirrmacher bei seinem jüngsten Aufsatz in der FAZ umgetrieben hat. Ich erwarte ja gar nicht von Ihnen, dass Sie sagen:
Die Linke hat immer recht. – Das würde ja nicht einmal ich sagen. Aber es sollte Ihnen doch zu denken geben, wenn Schirrmacher zu dem Ergebnis kommt, dass der Zusammenbruch der Marktideologie nicht nur die FDP, sondern auch die CDU zu leeren Hüllen gemacht hat und dass diese naive Marktgläubigkeit dazu geführt hat, dass Sie Ihr Wertegerüst schon lange vor der Finanzkrise abgegeben und entleert haben. Da nützt Ihnen auch die Berufung auf die Großväter der sozialen Marktwirtschaft, auf Walter Eucken oder Müller-Armack, nichts. Das ist alles Geschichte, meine Damen und Herren. Aber das ist nicht Ihre Orientierung in der Gegenwart. Das ist Ihr Problem.

Dieses seit Herbst 2008 fortgesetzte Marktversagen, das wir erleben, bedeutet den Komplettverlust Ihres politischen Koordinatensystems. Die Wirklichkeit hat sich in diesen drei Jahren radikal verändert. In dieser neuen und veränderten Wirklichkeit finden Sie sich ganz offenbar nicht mehr zurecht. Sie irren von Raum zu Raum wie in einem schlechten Science-Fiction-Film, aber Sie finden nicht in die Realität zurück. Das ist der Punkt.

Das, was sich verändert, findet auch außerhalb unserer Grenzen statt. Die Gewichte, die Achsen verschieben sich. All das habe ich auch hier im Deutschen Bundestag schon beschrieben. Weil das so ist und weil auch ein großes und reiches Land wie Deutschland allein in dieser Welt nicht mehr zurechtkommt, verstehe ich nicht, dass Sie zwischen europäischen Lippenbekenntnissen auf der einen Seite und europaskeptischen Stammtischparolen auf der anderen Seite hin- und herschwanken.

Letzte Woche war bei uns Jacques Delors zu Gast. Er ist keiner derjenigen, die sagen: Früher war alles richtig, und wir haben alles besser gemacht. – Aber eines hat er interessanterweise schon gesagt: Das, was wir gegenwärtig erleben, ist nicht die erste Krise der Europäischen Union. Nach dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods waren wir in einer ähnlichen Situation. Damals haben sich Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing zusammengesetzt und haben die Voraussetzungen für ein neues Währungssystem in Europa geschaffen. Als Helmut Kohl und andere für eine gemeinsame Währung, für den Euro, kämpften, war die Mehrheit der Europäer noch dagegen. Ich sage damit nur: Europa braucht, um voranzukommen, diese Art von Mut und Ideen. Dieser Regierung fehlt es an beidem. Das ist der Punkt.

Die FTD gehörte nicht immer zu meiner Lieblingslektüre. Ich kann mich daran erinnern, dass sie 2009 für Sie Wahlkampf gemacht hat. In dieser Woche habe ich erstaunliche Wandlungen zur Kenntnis genommen: nicht nur, dass in dieser Zeitung massenhaft von der Enttäuschung über diese Regierung zu lesen war, sondern auch, dass sie sich, was die europapolitischen Positionen angeht, weitgehend an unserer Seite befindet. Sie sagt: Wir brauchen eine klare Orientierung, um aus dieser Krise herauszukommen. Wir brauchen eine Roadmap für eine Währungsunion, die diesen Namen wirklich verdient. – Das ist richtig, weil wir in den vergangenen Krisen nur auf diese Weise Resignation und Stillstand immer wieder überwunden haben. Der Befund für heute ist: Das europäische Schiff treibt orientierungslos herum. Alle Welt wartet auf Berlin. Aus Berlin kommen dröhnendes Schweigen und Streit in der Koalition. Das wird nicht reichen.

Dröhnendes Schweigen auch bei der Regulierung der Finanzmärkte. Herr Kauder, ich sage es einmal positiv: Wir in der Großen Koalition waren uns über einen Satz einig: kein Produkt, kein Akteur, kein Finanzplatz ohne Aufsicht! Das haben wir damals gesagt. Die Frage ist ja nur: Was ist daraus geworden? Herr Schäuble, was ist aus der ehrgeizigen Agenda von Pittsburgh geworden? Wann gab es die letzte deutsche Initiative zur Regulierung der Finanzmärkte? Warum hören wir nichts davon? Wo ist die Liste mit den Hochrisikoprodukten, die vom Markt müssen? Wo ist der Vorschlag zur Einhegung der unersättlichen Hedgefonds?
Warum unternehmen Sie nichts gegen den Hochfrequenzhandel, der sich in der Börsenpraxis durchfrisst? Schon jetzt macht dieser Handel 40 Prozent des Umsatzes an der Frankfurter Börse aus. Verantwortungslose Logarithmen entscheiden in Zehntelsekunden über Milliardenanlagen, aber kein lebendiger Mensch trägt mehr Verantwortung. Was lassen wir da mit uns machen? Warum lassen wir das laufen? Sie sonnen sich da im Verweis auf das Verbot von ungedeckten Leerverkäufen. Aber es passiert darüber hinaus nichts.

Verehrter Herr Schäuble, das ist nicht die Wahrnehmung der Verantwortung, die Sie haben. Wir müssen zurück zu Regeln auf den Finanzmärkten – und die gibt es nach wie vor nicht.
Stattdessen handeln Sie mit der Schweiz ein Abkommen aus, von dem jedenfalls ich glaube, dass es jedes Rechtsempfinden eines Steuerzahlers mit Füßen tritt.

Frankreich hat schon erklärt, dass es zu solchem Ablasshandel nicht bereit ist – die Vereinigten Staaten ebenso. Die USA haben der Schweiz gerade ein Ultimatum gestellt. Aber wir segnen das offenbar alles ab und verzichten, wie ich gehört habe, sogar vertraglich auf das Recht, anonymen Hinweisen nachzugehen. Und die Schweizer Banken reiben sich die Hände.

Herr Schäuble, ich weiß nicht, ob Sie sich einmal die Presseerklärung der Schweizerischen Bankiervereinigung angeschaut haben. Dort heißt es mit Blick auf das Abkommen mit Deutschland: Der Finanzplatz Schweiz hat mit dem Abkommen einen Meilenstein in seiner Wachstumsstrategie 2015 gesetzt. Die derzeitige wirtschaftliche und regulatorische Entwicklung lassen für die Finanzbranche auf eine anspruchsvolle Zukunft schließen. – Was „anspruchsvolle Zukunft“ heißt, steht auch noch in dieser Presseerklärung: Man wolle jetzt „neue margenträchtige Produkte im Bereich Hedge Funds oder Private Equity aus der Schweiz“ anbieten. Das ist das Ergebnis dieses Abkommens.

Herr Schäuble, Sie können diesen Weg gerne gehen. Aber ich sage Ihnen voraus: Die Mehrheit von Bundestag und Bundesrat werden Sie dabei nicht an Ihrer Seite haben.

Aber auch das passt am Ende alles ins Bild. Wir haben uns ja monatelang auch in diesem Haus über die Frage der Gläubigerhaftung bzw. Gläubigerbeteiligung gestritten, also über den Beitrag, den Banken bei der Entschuldung von Notlagenstaaten zu leisten haben. Und Sie lassen sich von Herrn Ackermann und dem Bankenverband einen Vorschlag zur Gläubigerhaftung aufschwatzen, der am Ende doch nichts als reiner Etikettenschwindel ist.

Wenn Sie die Wirtschaftspresse gelesen haben, wissen Sie: 30 Prozent Wertberichtigung waren bei den Banken lange eingepreist. Sie treffen jetzt eine gemeinsame Vereinbarung der europäischen Staaten, nach der es nur 20 Prozent werden. Besser hätte das Geschäft für die Banken gar nicht sein können.

Ich sage Ihnen: Das kann und darf nicht das letzte Wort gewesen sein. Sonst verstehe ich die Welt nicht mehr.

Das ist alles schon schwer genug auszuhalten. Aber wenn sich alle diejenigen, die für dieses Desaster auch noch mitverantwortlich sind, jetzt hinstellen und nach dem Motto „Haltet den Dieb!“ auf den verschwenderischen Staat schimpfen, dann fehlt mir jede Gelassenheit. Die Wahrheit ist doch eine ganz andere. Zuerst hat der Staat die Banken gerettet, und jetzt schwingen sich die Finanzmärkte zum Richter über die Staaten auf. 2008 hatten wir unter Peer Steinbrück gesamtstaatlich schon einen ausgeglichenen Haushalt. Ohne den Bankenrettungsschirm säßen viele dieser Besserwisser in Nadelstreifen heute auf der Straße, meine Damen und Herren.

Mir geht es überhaupt nicht um Banker-Bashing. Es gibt viele gute Leute darunter. Aber ein wenig Innehalten, ein wenig Nachdenklichkeit – –

– Herr Fricke, die Antwort, nur auf die Landesbanken zu verweisen, ist zu einfach. Natürlich sind sie auch ein Problem; das gebe ich zu.

Aber was ich über die Banker sage, gönne ich auch Ihnen: Ein bisschen Innehalten, ein bisschen Nachdenklichkeit und manchmal ein bisschen Demut – das dürfte nicht zu viel verlangt sein.
Es sollte erst recht nicht von denjenigen zu viel verlangt sein, die sich in den letzten Jahrzehnten als Heerscharen von Chefvolkswirten, Finanzmarktexperten und Anlageberatern getummelt haben und denen nur eines gemeinsam ist, nämlich dass sie sich alle geirrt haben und nichts wussten, als es darauf angekommen ist.

Es gibt viel zu tun. Das ist von einer Regierung anzupacken, auch von dieser. Wenn sie das nicht tut, dann sei die Konsequenz klar bezeichnet: Wer das verweigert und hier keine entschiedene Politik macht, der bereitet die größte sozialpolitische Umverteilung seit Jahrzehnten vor. Dann werden dem Steuerzahler weiterhin Lasten aufgebürdet und diejenigen geschont, die sich in den letzten Jahren bereichert haben. Das geht so nicht. Das treibt die Menschen in die Wahlenthaltung.

Was mit dem Hotelprivileg begann, das setzt sich mit der Schonung der Gläubigerbanken bei Ihnen fort. Es geht aber nicht um den täglichen kleinkarierten parteipolitischen Streit. Richten Sie den Blick auf die europäische Nachbarschaft! Wenn Sie das nicht anpacken und hier nichts tun, dann hantieren Sie mit sozialpolitischem Sprengstoff. Das sollte Ihnen bewusst sein.

Meine Damen und Herren, wer auch immer nach Ihnen regiert, übernimmt ein schweres Erbe. Ich kann nicht verstehen, dass in dieser Situation, in der wir zu Recht über Verschuldung diskutieren, nicht auch auf das eigene Land geschaut wird. Ich verstehe nicht und kann nicht billigen, dass in einer Situation, in der wir noch nicht entscheidend von unserem Schuldenstand herunterkommen, weiterhin gegenüber der Öffentlichkeit, nein, gegenüber der eigenen Klientel mit Sperenzchen wie Steuersenkungen gearbeitet wird.

Es bleibt dabei: Sie haben keine klare Sicht auf eine komplett veränderte Wirklichkeit. Sie finden sich nicht darin zurecht. Sie haben auch keine Sprache dafür. Es heißt immer noch: „Steuern runter!“, „Mehr Netto vom Brutto“ und „Markt statt Staat“. Sie haben immer noch die falsche Sprache. Sie haben das falsche Programm, und Sie haben das falsche Personal.

Sie sind aus der Zeit gefallen. Sie haben den Kontakt zur Wirklichkeit verloren. Für Deutschland ist jeder Monat, den dieses Drama früher zu Ende geht, ein Gewinn.

Herzlichen Dank.