Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, wir haben nicht nur Verständnis für die Abwesenheit des Bundesfinanzministers, sondern wir wünschen ihm auch raschen Fortschritt beim Heilungsprozess. Gute Besserung, Herr Schäuble, wünscht Ihnen die gesamte SPD-Fraktion!

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Haushaltsdebatten sind besondere Debatten, selten in Moll geführt und nie nur Debatten über Zahlenkolonnen. Da steht die Regierung auf dem Prüfstand, und das tut not, weil   mit Blick auf das, was wir in den nächsten Jahren zu bestehen haben   die Herausforderungen in der Tat gewaltig sind. Die Zweifel der Menschen in Deutschland, dass wir das schaffen, wachsen doch täglich; das ist doch zu spüren. Wir stecken in der tiefsten Wirtschaftskrise seit 1949. Das Wirtschaftswachstum verlagert sich in andere Teile der Welt, nach Asien etwa, weit weg von Europa und von Deutschland. Das Gewicht Europas in der Welt wird kleiner, und hier wachsen sogar die Gegensätze zwischen den Eurostaaten. Viele Menschen in Deutschland fragen sich mittlerweile, ob der Wohlstand hier wohl erhalten bleibt. Das alles ist schlimm genug. Aber noch schlimmer ist: Ausgerechnet jetzt, wo Politik vorangehen müsste, wo Politik Vertrauen schaffen müsste, da hat Deutschland eine Regierung, die nicht regiert, die keine gemeinsame Idee und keinen gemeinsamen Willen hat. Jeder kämpft gegen jeden in dieser Regierung. Sie streiten sich wie die Kesselflicker. Es gibt keinen, der Ordnung schafft. So schlecht wurde Deutschland seit Jahrzehnten nicht regiert. Wir verlieren Tag für Tag an Boden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Viele, die Sie gewählt haben, sind nicht nur enttäuscht   diese Briefe bekommen nicht nur wir von der SPD-Fraktion  , sondern auch entsetzt. Nach 140 Tagen Regierung haben Sie doch im Grunde genommen Ihren Vertrauensvorschuss schon verspielt. Das kleinkarierte Gezänk, das wir jeden Tag hören, geht den Menschen doch auf die Nerven. Die Menschen in Deutschland wissen schon jetzt, nach 140 Tagen, nicht, wovor sie eigentlich Angst haben sollen: dass diese Regierung sich auflöst oder dass sie im Amt bleibt. Das Schlimmste ist: Selbst das ist den Menschen schon egal.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Jetzt sehr ernsthaft: Glauben Sie nicht, dass Sie mit der SPD eine Oppositionsfraktion haben, die da schadenfroh in der Ecke steht   nicht, wenn es um die Zukunft des größten Landes in Europa geht. Wir wissen, Deutschland regieren, das ist kein Spiel, der Kabinettssaal ist kein Abenteuerspielplatz, eine Regierung ist keine Selbsterfahrungsgruppe. Spielen Sie nicht mit der Verantwortung, die Sie für dieses Land übernommen haben! Nehmen Sie diese Verantwortung endlich an!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

So wie bisher, Frau Merkel, schafft diese Regierung kein Vertrauen, sie zerstört Vertrauen. So kann das nicht weitergehen. Wer soll denn in Deutschland an die Regierung glauben, wenn sie nach 140 Tagen ein so schwaches Bild abgibt? Wer soll denn glauben, dass diese Regierung in der Lage ist, die Macht von Banken und Börsen tatsächlich einzuschränken? Wer soll denn glauben, dass diese Regierung Wege aus der Krise beschreibt? Wer soll denn glauben, dass diese Regierung Zukunft gestaltet angesichts des schwierigen Jahrzehnts, das auf uns zukommt?

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, Sie regieren noch kein halbes Jahr, und niemand glaubt Ihnen das, nicht einmal die eigene Wählerschaft. Das kann Sie doch nicht kaltlassen. Darüber kann man doch nicht mit Schulterzucken hinweggehen. Das geht einfach nicht. So kann das nicht weitergehen!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN   Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP   Volker Kauder (CDU/CSU): Wir sind hier doch nicht im Boxklub!)

Seien Sie vorsichtig, es geht hier nicht nur um Regierung, sondern es ist ein bisschen mehr, was da bedroht ist. Da kommt ein bisschen mehr als nur Vertrauen in die Regierung ins Rutschen.

Viele sagen doch: Die Orientierung fehlt, Werte sind verloren gegangen. Wenn da etwas dran ist, meine Damen und Herren, dann sind diese Werte vermutlich nicht in der Wohnküche von Arbeitslosen verloren gegangen. Werte erodieren nicht von unten, sondern sie erodieren meistens von oben. Das war schon im späten Rom so, Herr Westerwelle. Dekadenz war leistungsloser Wohlstand saturierter Oberschichten. So war das.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nun weiß auch ich, nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich, Herr Westerwelle. Aber wenn ich schon Vergleiche anstelle, dann hätte ich an Ihrer Stelle in den Vergleich Gier, Unvernunft, Verantwortungslosigkeit und Leichtfertigkeit einiger internationaler Finanzmanager in den Topetagen einbezogen. Je skrupelloser, desto  erfolgreicher   das war doch die Maxime, die einige vorgelebt haben. Das zerstört Werte. Das zerstört Vertrauen. Wenn das Vertrauen in die Gültigkeit von Regeln, wenn das Vertrauen in die Gültigkeit von Standards verloren geht, wenn da einige glauben, sich über andere stellen zu können, dann sinkt eben auch das Vertrauen in Politik. Dann sinkt das Vertrauen in Demokratie. Das geht nicht nur die Regierung an. Darum kümmern auch wir uns, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben jedenfalls unsere Verantwortung angenommen mit einer kritischen und   das gebe ich zu  , wo nötig, auch scharfen Oppositionsarbeit. Wir haben die Verantwortung aus den elf Jahren, an denen wir an der Regierung in diesem Land beteiligt waren, nicht vergessen. Wir haben das gezeigt, etwa bei der Debatte und bei der Abstimmung über den Afghanistan-Einsatz. Wir zeigen das bei den Gesprächen, die wir zurzeit über die Zukunft der Jobcenter führen. Wir haben Verantwortung gezeigt. Aber, Frau Merkel, ich frage Sie nach Ihrer Verantwortung. Sie sind verantwortlich dafür, dass die Regierung ihre Aufgaben zum überwiegenden Teil nicht erfüllt. Es ist kaum zu ertragen, dass Sie den Eindruck erwecken, als hätten Sie damit nichts zu tun, als wäre Ihnen auch manches peinlich, was der eine oder andere Minister da öffentlich äußert.

(Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dafür muss man Verständnis haben!)

Diese schwarz-gelbe Koalition, Frau Merkel, ist Ihre Koalition. Sie haben diese Koalition gewollt. Das war vor sechs Monaten Ihre Liebesheirat. Wir sagen Ihnen heute: Sie stehen vor den Trümmern einer zerrütteten Ehe. Das ist die ganze Wahrheit. Jeder sieht das.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN   Lachen bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wenn ich mit dem einen oder anderen von Ihnen über die Flure gehe, dann sagt mir mancher: Herr Steinmeier, Sie hatten doch damals bei Rot-Grün 1998 auch schlechte Presse. - Ich erinnere mich sehr gut: Ja, auch wir hatten schlechte Presse. Aber ich würde nie sagen, dass schlechte oder gute Presse der Maßstab von Politik sein darf. Rot-Grün wurde 1998 kritisiert, weil sie sich zu viel vorgenommen haben, zu schnell vorgenommen haben, gleichzeitig gehandelt haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Lachen bei der CDU/CSU und der FDP - Volker Kauder (CDU/CSU): Sie sind ein Traumtänzer!)

- Passen Sie auf! - Vieles haben Sie jetzt übernommen.

Ich erinnere an den Streit um die Energiewende. Wo standen Sie bei der Einführung der Ökosteuer? Wo standen Sie beim Erneuerbare-Energien-Gesetz? Wo standen Sie beim Ausstieg aus der Atomenergie?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das alles fand im ersten Jahr statt, begleitet durch die Änderung des Staatsangehörigkeitsrechtes und durch Initiativen zur Veränderung im Verhältnis der Geschlechter.

Dieses Problem haben Sie nicht: zu viel, zu schnell und gleichzeitig. Sie haben ein anderes Problem:

(Bettina Hagedorn (SPD): Ja!)

Diese schwarz-gelbe Regierung hat kein einziges gemeinsames Projekt, das überzeugt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Union beschimpft die Liberalen als Traumtänzer. Die FDP erwidert der Union: Wenn ihr heimlich weiter Große Koalition macht, was wollt ihr dann mit uns? - Frau Merkel, was soll denn daraus werden? Wenn sogar die Beteiligten dieser Koalition die Koalition für einen Irrtum halten, dann ist das eben ein schrecklicher Irrtum für Deutschland.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Das für einen Irrtum zu halten, ist ein Irrtum, genau!)

Jetzt diskutieren wir einen Haushalt mit über 80 Milliarden Euro Neuverschuldung. Jeder dritte Euro dieses Haushaltes ist schuldenfinanziert. Das ist einsamer Rekord. Das ist natürlich auch eine Folge der Finanzkrise. Das - jetzt hören Sie zu - legen wir nicht vordergründig Ihnen oder dem Finanzminister Herrn Schäuble zur Last. Aber die ganze Wahrheit ist doch: Die Steuerzahler werden jetzt für die Gier von Banken und Hedgefonds zur Kasse gebeten, jeder in Deutschland mit mindestens 2 500 Euro.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Sie haben es doch eingeführt!)

Das ist das himmelschreiend Ungerechte. Wenn Politik verlorenes Vertrauen wirklich wieder zurückholen will - das ist auch Ihre Aufgabe, meine Damen und Herren  , dann müssen Sie eben jetzt als Regierung handeln. Stoppen Sie das Tun der Finanzjongleure, die sich ein ums andere Mal auf Kosten des Gemeinwohls bereichern!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sorgen Sie dafür, dass das internationale Börsenkasino nicht weitermacht wie bisher! Sorgen Sie dafür, dass die Banken das billige Geld aus den Rettungspaketen an unsere Mittelständler geben und nicht schon wieder für Zockereien missbrauchen!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Frau Merkel, Sie haben viel geredet, aber geändert hat sich nichts. Das ist das, was zu beklagen ist. In der Großen Koalition haben wir, haben Sozialdemokraten Sie bei der Regulierung der Finanzmärkte gedrängt. Die Union hat damals auf der Bremse gestanden, und mit der FDP steht jetzt die gesamte Regierungsbank auf der Bremse. Die Banken und die Finanzmarktlobby - wir hören das bis nach Berlin - atmen erleichtert auf in diesen Tagen. Warum das so ist, haben wir in den letzten Monaten oft genug gesehen: Da entwirft Gordon Brown in Großbritannien den Vorschlag, die Hälfte der Bankerboni als Steuern abzukassieren, was Frau Merkel für eine „charmante Idee“ hält. Aber was passiert dann?

(Caren Marks (SPD): Nichts! Wie immer!)

Nichts. Dann haben wir über die Börsen- und Finanzmarktabgabe diskutiert. Was passierte? Weit weggeschoben in die Prüfungsschleifen der G-20-Welt, vertagt - so würde man sagen - ad calendas graecas. Aber ich gebe zu: Das geht in diesen Tagen schwer über die Lippen.

Banken und Hedgefonds haben den griechischen Staat mit spekulativen Kreditausfallversicherungen fast in den Ruin getrieben. Das hat Griechenland und - wer weiß - am Ende vielleicht auch den Steuerzahler in Europa Hunderte von Millionen Euro gekostet. Was sagt diese Regierung? Was sagt die Bundeskanzlerin? Das muss man untersuchen. - Nein, Frau Merkel, Taten sind jetzt gefragt. Die Krise geht weiter, solange es keine Ordnung auf den internationalen Finanzmärkten gibt. Legen Sie deshalb die Hedgefonds an die Kette! Bringen Sie Ratingagenturen unter Aufsicht! Verbieten Sie Leerverkäufe und den spekulativen Handel mit Kreditausfallversicherungen! Das muss mindestens sein in dieser Situation.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der Steuerzahler jedenfalls - darüber müssen wir uns in diesem Haus einig sein - darf nicht weiter die Zeche für Zocker und Spekulanten zahlen. Dafür zu sorgen, ist jetzt Aufgabe dieser Regierung. Wenn Sie dafür keine Mehrheit in der Koalition haben: Ich bin mir sicher, in diesem Hause haben Sie sie, Frau Merkel.

(Beifall bei der SPD)

Ich spreche über Vertrauen. Wer Vertrauen zurückholen will, der muss mit Blick auf diesen Haushalt und mit Blick auf eine Rekordverschuldung von 80 Milliarden Euro beim Sparen bei sich selbst anfangen. Diese Regierung macht das Gegenteil. Herr Fricke, Sie haben gestern hier gesprochen. Ich habe in früheren Jahren viele Gespräche mit Herrn Koppelin, dem für mich damals zuständigen Haushälter, und mit Herrn Westerwelle geführt. Wie haben Sie sich über jede neue Stelle aufgeregt, als Sie noch in der Opposition waren. Wie oft haben Sie von diesem Pult aus mit Ihrem dickleibigen liberalen Sparbuch gewedelt. 400 Sparvorschläge haben Sie uns von diesem Rednerpult aus angekündigt. Das war Ihr gutes Recht. Womit Sie nicht gerechnet haben: Das weckt Erwartungen. Jetzt sind Sie an der Regierung und nichts davon ist verwirklicht.

(Widerspruch bei der FDP - Jörg van Essen (FDP): Stimmt gar nicht! Das ist doch Unsinn!)

Stattdessen 985 neue Beamtenstellen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Norbert Barthle (CDU/CSU): Das ist falsch! Das stimmt nicht! Wir bauen Stellen ab! Sie sollten in den Haushalt hineinschauen! Lesen macht schlauer!)

Sie suchen offenbar noch nach einer Überschrift für das schwarz-gelbe Projekt. Mir fällt nur eine Überschrift für dieses Projekt ein, eine Überschrift, die sich aufdrängt. Sie lautet „Mehr Bürokratie wagen“. Das ist Ihre Parole.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Finanzminister hat 417 neue Stellen. Herr Röttgen lässt für 2 Millionen Euro seine neue Chefetage planen, so habe ich gelesen. Gleichzeitig sperrt diese Regierung 900 Millionen Euro für die Qualifizierung von Arbeitslosen. Sie predigen öffentlich Wasser und trinken heimlich Wein. Sie aasen und denen, die Arbeit suchen, nehmen Sie das Geld weg. Das sind die Prioritäten dieser Regierung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Westerwelle, ich habe Sie auf dem Parteitag der FDP in Siegen beobachtet. Ich habe auf der großen Leinwand im Hintergrund den Slogan gesehen „Aufstieg durch Leistung“. Aufstieg durch Arbeit, Aufstieg durch Bildung und Aufstieg durch Leistung: Das sagen wir Sozialdemokraten nicht nur, dafür machen wir seit 150 Jahren Politik.

(Beifall bei der SPD)

Wir ziehen daraus möglicherweise sehr unterschiedliche Schlussfolgerungen. Wir sagen nämlich zusätzlich: Jeder, der jeden Tag zur Arbeit geht, muss von seinem Lohn verdammt noch mal auch leben und seine Familie ernähren können. Er muss herauskommen aus Armut und aus der Abhängigkeit vom Staat. Sie von der FDP und auch Teile der Union finden sich eben mit Billiglöhnen ab. Der eine oder andere hält sie sogar für notwendig. Ich habe es im Koalitionsvertrag gelesen. Da sagen Sie: Sittenwidrige Löhne sind die Untergrenze. Sie wissen, was das im Klartext nach der geltenden Rechtsprechung bedeutet. Das bedeutet 4 Euro die Stunde, und das bedeutet weiterhin, dass der Rest bis zur Grundsicherung vom Steuerzahler draufgelegt werden muss. Das ist Ihre Politik. Das bedeutet für die Menschen: den ganzen Tag arbeiten und am Ende doch keine Chance haben, aus der Abhängigkeit herauszukommen, also keine Unabhängigkeit vom staatlichen Tropf. Sie reden über den Preis der Arbeit, und wir reden über den Wert von Arbeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wer den Wert von Arbeit nicht respektiert, wer ihn missachtet, der greift das Wertegerüst einer auf Arbeit gegründeten Gesellschaft an. Deshalb war das Wort von der römischen Dekadenz, das Sie, Herr Westerwelle, den Arbeitslosen hinterhergerufen haben, nicht nur zynisch, sondern auch leichtfertig und gefährlich. Und ich behaupte, Sie wissen das.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): Ach! –Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Deshalb macht er es ja!)

Wenn Ihnen an Aufstieg durch Arbeit oder Aufstieg durch Leistung wirklich etwas liegt, dann schaffen Sie die Voraussetzungen dafür, dass in diesem Lande endlich Mindestlöhne eingeführt werden und dass wir mehr Arbeitsvermittler bei den Arbeitsagenturen bekommen. Schaffen Sie Perspektiven und Beschäftigungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose, statt sie zu beschimpfen. Deutschland muss kein Land der Billiglöhne bleiben und werden. Dafür werden wir kämpfen, und zwar auch in der Kommission für Mindestlöhne.

(Beifall bei der SPD – Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Das hätten Sie machen sollen, als Sie an der Regierung waren!)

Wir alle wollen, dass Arbeit sich lohnt, dass Leistung sich lohnt, aber eben nicht nur für Hotelbesitzer und andere, sondern auch für diejenigen, die wirklich zu den Leistungsträgern in diesem Lande gehören, zum Beispiel für die Pflegekräfte, die schwer arbeiten müssen und oft sittenwidrig schlecht bezahlt werden. Sie haben mindestens den Mindestlohn verdient, diesen aber ganz bestimmt. Da sind Union und FDP merkwürdig zurückhaltend, da eiern sie herum. Sie haben diese Aufgabe an eine Kommission weitergegeben und schauen mit verschränkten Armen zu, wie die Sache zurzeit nicht vorankommt.

Frau Merkel, Frau von der Leyen, Frau Schröder, tun Sie das Nötige, damit sich Leistung für diejenigen wieder lohnt, die die wirklichen Leistungsträger unseres Landes sind, die jeden Tag Alte und Kranke füttern, waschen und ihnen Zuwendung geben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie sollten den Mut haben, zu sagen: Es geht nicht, diese Menschen mit einem Stundenlohn von 4 Euro abzuspeisen, und wenn die Kommission anders entscheiden wird, dann nehmen wir das nicht hin.

Sie appellieren alle an das Gute im Menschen, an die menschliche Gesellschaft.

(Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das tut die FDP wirklich nicht!)

Dagegen habe ich wirklich nichts; viele tun das zu Recht. Aber das Missverständnis in dieser Regierung ist: Sie haben nicht zu appellieren, Sie haben zu entscheiden. Das tun Sie seit Wochen nicht, auch hier nicht, und deshalb sind Sie die größte Nichtregierungsorganisation dieses Landes!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Genauso halten Sie es in der Gesundheitspolitik. Jeder darf sich da im Augenblick einmal mit neuen Ideen ausprobieren, als hätten wir gerade in diesem Bereich nichts zu verlieren. Ich jedenfalls bin der Meinung, dass wir im europäischen Vergleich immer noch die beste medizinische Versorgung in diesem Land haben. Wir haben das Vertrauen der Menschen darauf, dass jeder Zugang zu dieser medizinischen Versorgung hat. Wir haben Vertrauen darauf, dass in Deutschland die Kosten für eine hochklassige medizinische Versorgung fair verteilt werden. Das ist nicht wenig. Aber als wäre das nichts, darf jeder in der Regierung in diesem Bereich herumdilettieren. Mit solch einer Politik untergraben Sie das Vertrauen der deutschen Bevölkerung.

Wer in einer solchen Situation auf nichts anderes kommt, als vorzuschlagen, die Beiträge der Arbeitgeber einzufrieren, der weiß ganz genau, was er tut. Das heißt nämlich, dass alle Kostensteigerungen infolge des medizinischen Fortschritts, neuer Behandlungsmethoden und steigender Medikamentenpreise in Zukunft einseitig auf den Schultern der Versicherten ruhen. Das bricht mit dem Solidaritätsprinzip im Gesundheitswesen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg van Essen (FDP): Nichts verstanden! – Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Quatsch!)

  Sie wissen das.   Das bricht mit dem guten Prinzip „Menschen für Menschen“, das uns in 60 Jahren Nachkriegszeit in der Gesundheitspolitik stark gemacht hat. Sie opfern das einem Wahlversprechen. So darf man in Deutschland nicht Politik machen, vor allem nicht in diesem sensibelsten Bereich der Gesellschaft.

(Beifall bei der SPD)

Ich bin nicht an der Regierung, ich darf appellieren, und ich appelliere an Sie: Behalten Sie erstens die Arbeitgeber in der Verantwortung

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

und fahren Sie zweitens das Gesundheitssystem durch die Einführung der Kopfpauschale nicht gegen die Wand. Dieses System ist ungerecht, das wissen Sie, und der Sozialausgleich ist unfinanzierbar. Aber was noch viel schlimmer ist: Sie wollen bis zu 30 Millionen Menschen in den Sozialausgleich schicken, 30 Millionen Krankenversicherte zu Bittstellern machen, mit umfangreichen Fragenkatalogen, Formularen und   wer hätte es gedacht   mit noch mehr Bürokratie.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich verspreche Ihnen: Das wird Ihnen nicht gelingen. Der Protest ist gewaltig, und wir haben die Bürger auf unserer Seite. Wir werden das verhindern.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das ist eine falsche Behauptung!)

Die Regierung hat nicht nur keine Antworten. Da, wo sie Antworten gibt, hat sie falsche Antworten. Sie verweigert sich den wirklich wichtigen Fragen. Die Menschen stellen sich nicht die Frage: Kommen die miteinander klar? Das interessiert die Menschen nicht. Die Menschen interessiert die Frage: Woher kommt in Deutschland der Wohlstand von morgen? Dazu habe ich von dieser Regierung noch kein vernünftiges Wort gehört, geschweige denn ein durchdachtes Konzept gesehen. Das, was ich gesehen habe, ist ein Gesetz, das einen falschen Namen trägt. Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz wächst nichts, außer den Schulden. Sie hören doch die Hilferufe der Bürgermeister und Oberbürgermeister. Sie haben das zur Kenntnis genommen und   wie ich den Zeitungen entnommen habe   mit Betroffenheit quittiert, mehr aber auch nicht. Zu den Einnahmeverlusten, die die Städte und Gemeinden haben   in diesem Jahr sind es bereits mehr als 10 Milliarden Euro  , legen Sie noch eins obendrauf. Sie helfen ihnen nicht. Im Gegenteil: Sie nehmen ihnen noch einmal etwas weg: 1,6 Milliarden Euro allein durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz und zusätzlich durch die veränderte steuerliche Berechnung bei Leasing und Funktionsverlagerung ins Ausland. Bei zukünftigen Einkommensteuersenkungen können noch weitere Einnahmeverluste in Milliardenhöhe hinzukommen. Das geht so nicht! So können wir die Kommunen in Deutschland nicht alleine lassen. Mit uns geht das nicht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN   Norbert Barthle (CDU/CSU): Was ist mit dem Bürgerentlastungsgesetz?)

Was ich nun sage, Frau Merkel, meine ich in der Tat sehr ernst:

(Norbert Barthle (CDU/CSU): Jetzt wird es endlich spannend! - Hermann Gröhe (CDU/CSU): Sie meinen mal etwas ernst!)

Hören Sie genau zu. Wenn das so weitergeht   Sie ahnen das doch selbst auf der Seite der  Regierung ,

(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf: Opposition?)

dann sind wir dabei, unsere Zukunft zu verlieren. Die Investitionen rutschen ab und der private Konsum stagniert. Im letzten Aufschwung waren wir in Deutschland die Lokomotive in Europa. Wir haben den Zug in Europa gezogen, andere folgten dem. Jetzt fallen wir aus. So sehr berechtigt es ist, dass wir sorgenvoll nach Griechenland blicken, so wissen wir auch, dass das, was sich in diesem Lande tut, für das Wachstum in Europa viel wichtiger ist als die Haushaltskrise und die Schwäche Griechenlands.

Wenn wir über unseren Tellerrand blicken, dann sehen wir, dass sich Nordamerika erholt und Asien wächst. China ist Exportweltmeister. Deutschland und Europa fallen zurück. Wenn wir nicht aufpassen, wird uns der Boden unter den Füßen weggezogen, und dann haben unsere Kinder nicht dieselben Chancen wie wir. Das, meine Damen und Herren, Frau Merkel, ist das zentrale Problem. Kümmern Sie sich in dieser Regierung endlich darum! Legen Sie eine Innovationsstrategie vor, eine Strategie für die Leit- und Zukunftsbranchen dieses Landes, eine Strategie, wie Arbeit von morgen entsteht, eine Energiestrategie, mit der Sie sich nicht zum Handlanger der Atomwirtschaft in diesem Land machen,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

eine Strategie, die den Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigt statt zu gefährden. Das müssen die Prioritäten dieser Regierung sein.

Ich füge hinzu: Rufen Sie bitte auch Ihren Wirtschaftsminister Herrn Brüderle zur Ordnung, der in Zeiten höchster Not   ich habe eben die Gründe beschrieben   mit einem Entflechtungsgesetz durchs Land zieht. Das ist gut und schön, aber was das Gesetz angeht, so verrät er keinem, auch nicht auf Nachfrage, was und vor allem wer gemeint ist. Herr Brüderle, wenn Sie die Post meinen, dann lassen Sie uns in diesem Haus doch über die Zukunft der Post streiten, aber laufen Sie nicht mit Überschriften von Gesetzgebungsvorhaben durch die Gegend; denn keiner weiß, was die Anstrengung in diesem Bereich im Augenblick soll.

(Beifall bei der SPD – Volker Kauder (CDU/CSU): Wir wollen die Sozis und die Linken entflechten!)

Herr Kauder, wissen Sie, wenn Sie das karikieren, dann frage ich mich: Warum treibt es Sie eigentlich nicht um   das werden Sie wie ich am Wochenende in den Zeitungen gelesen haben  , dass Vattenfall sein Energienetz, sein Leitungsnetz verkaufen will? Warum treibt Sie das nicht um? Ich sage es Ihnen: Weil Sie nicht sehen, dass wir mit solchen Entscheidungen einzelner Unternehmen ein gutes Stück Zukunft in diesem Lande verlieren.

(Beifall bei der SPD - Volker Kauder (CDU/CSU): Weil die EU es verlangt hat!)

Ich habe mir in der Großen Koalition manchmal den Mund fusselig geredet   Sie wissen das, Sie können sich erinnern, dass wir den Verkauf der Energienetze nicht einfach tatenlos hinnehmen dürfen,

(Volker Kauder (CDU/CSU): Sie haben doch zugestimmt in Europa als Außenminister! Also, so ein Unsinn!)

dass wir sie in einer deutschen Netzgesellschaft unter Beteiligung des Bundes bündeln müssen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich schaue auf Peer Steinbrück: Auch der Finanzminister   das ist ja keine Selbstverständlichkeit   war damals dieser Meinung. Wir haben beide gesehen: Das ist nicht irgendetwas. Das sind die Lebensadern einer industriell geprägten Volkswirtschaft, über die wir da reden, und die dürfen wir nicht einfach irgendwelchen internationalen Finanzmarktinvestoren überlassen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Energiepolitiker unter Ihnen wissen das doch: Wenn die Integration der erneuerbaren Energien in das Leitungsnetz wirklich gelingen soll, dann brauchen wir dort Investitionen, und wir brauchen den Antrieb von Ingenieuren, um den Übergang von den bestehenden Netzen zu intelligenten Netzen, zu Smart Grids der nächsten Generation, wirklich zu schaffen. In der Großen Koalition war die Union dagegen. In dieser Koalition herrscht bei dem Thema „deutsche Netzgesellschaft“ gemeinschaftliches Desinteresse. Ich sage Ihnen: Auch Unterlassen gestaltet Wirklichkeit neu. Sie werden das am Ende bitter bereuen. Eines wissen Sie doch ganz genau: Irgendwelche Finanzinvestoren aus dem Vereinigten Königreich, aus den USA oder aus Singapur werden sich nicht um die Zukunftsfähigkeit des deutschen Energienetzes kümmern. Das glauben Sie doch selbst nicht. Sie tun nichts. Vom Schulterzucken müssten Sie inzwischen Muskelkater haben, Herr Brüderle.

(Beifall bei der SPD)

Das, was Deutschland jetzt braucht, ist eine kraftvolle Regierung, die dieses Land erneuert, deren wirtschaftspolitische Fantasie zu mehr reicht als nur dazu, zu sagen: Steuersenkungen, Steuersenkungen, Steuersenkungen. Deutschland braucht eine Regierung, die Investitionen organisiert, die Zukunft baut, eine Regierung, die die ganze Gesellschaft im Blick hat und nicht nur die eigene Klientel. Davon ist diese schwarz-gelbe Regierung meilenweit entfernt. Das ist das Verhängnis dieser Zeit.

(Beifall bei der SPD)

Ich komme zum Schluss und sage: Frau Merkel, Herr Westerwelle, ich bin mir inzwischen ganz sicher, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland sagt: Diese Regierung hat Deutschland nicht gewollt. Und ich sage: Eine solche Regierung hat Deutschland auch nicht verdient.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich fordere Sie auf: Tun Sie endlich Ihre Pflicht! Bringen Sie Ordnung in den Laden! Nehmen Sie endlich Ihre Verantwortung wahr! Es ist jetzt wirklich Ihre Verantwortung, Frau Merkel.

Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN   Volker Kauder (CDU/CSU): Seit fünf Jahren schon!)