Niels Annen (SPD):
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Verehrten Damen und Herren! Nachdem sich die Bundesregierung so viel Mühe gegeben hat, die Fragen zu beantworten, ist es eigentlich schade, dass sie jetzt gerade nicht vertreten ist. Trotzdem möchte ich etwas zum heutigen Thema sagen.
Ich freue mich darüber, dass wir vielleicht – nach sehr vielen ritualisierten Debatten auch in diesem Hause – die Möglichkeit haben, doch ein wenig differenzierter über die Lage in Afghanistan zu reden. Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass weder alles gut noch alles schlecht in Afghanistan ist.
Gerade wir, die Bundesrepublik Deutschland, haben eine lange Geschichte politischer Beziehungen zu Afghanistan. Es ist darauf hingewiesen worden: Wir werden in diesem Jahr den 100. Jahrestag der Beziehungen zwischen Deutschland und Afghanistan begehen. Das ist ein Datum, das in Afghanistan deutlich stärker als hier bei uns beachtet wird. Ich glaube, das sagt auch etwas über die Intensität der Ereignisse und der gemeinsamen in der Tat zum Teil auch blutigen Geschichte aus.
Meine letzte Reise in die Region ist schon lange her. Ich habe in der letzten Woche die Gelegenheit gehabt, das erste Mal seit 2008 wieder Kabul zu besuchen. Ich muss sagen, es haben sich viele Dinge wirklich positiv entwickelt. Diese Entwicklung lässt sich auch mit Zahlen belegen: Die durchschnittliche Lebenserwartung ist bei Männern von 45 Jahren im Jahre 2000 auf 58 Jahre und bei Frauen auf 61 Jahre gestiegen. 57 Prozent der afghanischen Bevölkerung – das ist schon gesagt worden – haben Zugang zu medizinischer Versorgung. Medizinische Versorgung gibt es nicht nur in Kabul und den großen Städten. Der Anteil lag 2002 dagegen bei lediglich katastrophalen 9 Prozent.
Es gibt auch andere Punkte, Herr Gehrcke, auf die man vielleicht noch einmal hinweisen sollte. Das fehlte ein bisschen nicht nur in Ihrer Rede heute, sondern eigentlich über die gesamten Jahre hinweg. Besonders deutlich sind die Auswirkungen der verbesserten Schulbildung zu spüren. Während vor 14 Jahren 1 Million Kinder – wohlgemerkt: nur Jungen – eine Schule absolviert hat, gehen aktuell 8,2 Millionen Kinder in Afghanistan zur Schule. Es gibt heute in Afghanistan Absolventen der Schulen, die wir aufgebaut haben. Und es gibt dort Universitäten. Natürlich kann man immer darüber diskutieren, wie die Qualität und wie der Zugang ist. Wenn Sie sich, Herr Gehrcke, aber einmal die Mühe machen würden – wie das einige Kollegen Ihrer Fraktion dankenswerterweise getan haben –, sich mit diesen Menschen zu unterhalten, um zu erfahren, welche Erwartungen sie an die Zukunft ihres Landes haben und wie sie sich in die Politik ihres Landes einmischen, werden Sie feststellen, dass sich dort etwas verbessert hat.
Ich bin ganz fest davon überzeugt: Wenn wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen und Afghanistan jetzt in einer sehr kritischen Phase nicht alleine lassen, wird sich vor allem dieses Investment in Bildung und Ausbildung positiv für das Land selbst auswirken. Denn am Ende – da sind wir uns wieder einig – können weder der Deutsche Bundestag noch die UNO noch die NATO noch die Europäische Union über die Zukunft Afghanistans bestimmen; das muss vielmehr eine Initiative der Afghaninnen und der Afghanen selber sein. Aber die Voraussetzungen dafür, dass es überhaupt diese Möglichkeit gibt, haben wir geschaffen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Es ist über die Regionen geredet worden, die wir am Anfang all dieser Initiativen sicherlich nicht ausreichend in den Blick genommen haben. Ich bin froh darüber, dass zumindest die Spitzen des Staates von Pakistan und Afghanistan gut übereinander reden. Das ist ein Zeichen der Hoffnung, dass wir nicht ungenutzt verstreichen lassen dürfen.
Ich kann das gerne wiederholen: Selbstverständlich hat sich in Afghanistan nicht alles positiv entwickelt. Wir haben gerade in den letzten Tagen auch Rückschläge zur Kenntnis nehmen müssen. Es hat Anschläge, Entführungen usw. gegeben. Das ist keine Wortschöpfung von uns, sondern eine afghanische Wortschöpfung: Das, was die Afghanen selber die Kampfsaison nennen, hat bereits blutig begonnen. Das ist etwas, was uns Sorgen bereiten muss. Trotzdem können wir uns heute darauf verlassen, dass die afghanischen Sicherheitskräfte auch ohne ISAF in der Lage sind, selber die Sicherheit der Regierung zu gewährleisten. Sie sind in der Lage gewesen, eine demokratische Wahl abzusichern, die zum allerersten Mal in der Geschichte des Landes dazu geführt hat, dass wir vor einigen Tagen mit dem ehemaligen Präsidenten Afghanistans hier in Deutschland reden konnten, weil er nämlich die Macht abgegeben hat. Das ist ein enormer Fortschritt.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Thorsten Frei [CDU/CSU])
Ich will deswegen schon noch einmal sagen: Dass sich Menschen unter Gefahr für Leib und Leben an dieser Wahl beteiligt haben, ist ein Bekenntnis zur Zukunft ihres eigenen Landes, ein viel stärkeres Bekenntnis, als das bei uns der Fall ist, wo man das quasi für eine Selbstverständlichkeit hält. Insofern haben Präsident Ghani und Chief Executive Officer Abdullah jetzt auch die Verantwortung, mit den Hoffnungen vernünftig umzugehen, eine Regierung zu bilden und dafür zu sorgen, die bestehenden Erwartungen nicht nur bezüglich der Gewährleistung von Sicherheit, sondern auch bezüglich der Bildung und der Partizipation am gesellschaftlichen Leben in der Realität zu erfüllen.
Ich glaube, wir sollten die Menschen in Afghanistan in den Mittelpunkt stellen. Es bleiben Meinungs- und Bewertungsunterschiede, Herr Gehrcke. Das ist vollkommen in Ordnung. Aber machen Sie sich einmal die Mühe, und reden Sie mit den Menschen, um die es geht, und nicht über Ideologien.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)