Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Brüderle, ich weiß nicht, wer Ihnen den Rat gegeben hat, hier und heute eine Zwischenbilanz der Regierung zur Wirtschaftspolitik zu ziehen.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Und Sie müssen darauf noch antworten!)

Auf denjenigen, der diesen Rat gegeben hat, würde ich jedenfalls nicht allzu häufig hören.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Hätten Sie lieber gestern gesprochen!)

Das, was wir heute gehört haben, ist keine Leistungsbilanz, verehrter Herr Brüderle. Das grenzt an einen wirtschaftspolitischen Offenbarungseid.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN   Zurufe von der FDP: Oh!)

Sie fordern, dass die Unternehmen online sein sollen, Herr Brüderle. Dazu kann man nur sagen: Diese Regierung ist es nicht. Das, was Sie eben vorgetragen haben, lässt doch klar erkennen: Da ist kein Kompass, da ist keine Richtung, da ist keine Idee. Diese Regierung und Sie, Herr Brüderle, warten mit gefalteten Händen, bis der Aufschwung kommt, bis Manna vom Himmel fällt. Sie haben nichts auf der Kante; es besteht ein Rekordschuldenstand. Diese Regierung und auch Sie eben fabulieren weiterhin von Steuersenkungen und machen uns vor, dass alles schöner, heller und bunter wird und die Leute am Ende sogar noch ein bisschen Geld herausbekommen. Man muss schon bereit sein, Herr Brüderle, Realität und gesunden Menschenverstand weit hinter sich zu lassen, um daran zu glauben.

Ich versichere Ihnen: Wir glauben nicht daran. Sie werden es am 9. Mai erleben: Auch die Menschen glauben es Ihnen nicht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie können mir glauben, Herr Brüderle: Niemand in diesem Hause würde sich mehr als ich freuen, wenn Sie recht hätten

(Birgit Homburger (FDP): Fangen Sie schon mal an!   Weitere Zurufe von der FDP)

und wir wirtschaftlich wirklich schon über dem Berg wären. Sie sprechen doch mit denselben Unternehmen wie ich. Auch Sie hören und sehen doch: Es gibt einen ganz eklatanten Unterschied; da klafft doch etwas auseinander zwischen dem, was sich in Umfragen über Hoffnungen und Erwartungen über die zukünftige Wirtschaftsentwicklung dokumentiert, und dem, was sich im Augenblick in konkreten Auftragszahlen in Unternehmen niederschlägt. Das ist doch ein eklatanter Unterschied. Sie hören doch wie ich in den gleichen Gesprächen die Beurteilung, dass die Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung, in der wir uns befinden, keineswegs gesichert ist, dass wir uns bei Weitem noch nicht in einem nachhaltigen Aufschwung befinden.

Über das, was gut ist, darüber darf man   da haben Sie recht   auch gut reden. Schlechtreden ist gefährlich; auch das stimmt. Ich reihe mich da nicht ein. Aber wirklich gefährlich, Herr Brüderle, ist das, was Sie tun. Sie ignorieren einfach, dass dies die tiefste Krise der Nachkriegszeit ist, dass uns das mehr als nur Prozente beim Wachstum gekostet hat, dass wir eine tiefe Verunsicherung über die Stabilität unseres Wirtschaftssystems haben. Ob wir in der Politik es wollen oder nicht: Damit geht ein weiterer Verlust an Vertrauen in die Steuerungsfähigkeit von Politik einher. Ich sage Ihnen: Wenn die Demokratie wirklich stabil bleiben soll, dann müssen wir vor allen Dingen an der Wiederherstellung dieses Vertrauens arbeiten.

Deshalb ist es sehr gefährlich, wenn Sie sich wie am vergangenen Mittwoch einfach hinstellen und mit strahlender Miene verkünden: Leute, macht euch keine Sorgen! Die Wirtschaft brummt wieder. Es gibt sogar zusätzlich etwas zu verteilen, immerhin 8 Milliarden Euro.   Ganz Deutschland, Herr Brüderle, reibt sich verwundert die Augen. Herr Brüderle, Sie wissen, dass die Wirklichkeit eine andere ist. Sie selbst glauben nicht daran, und deshalb halte ich solche Pressekonferenzen wie die am Mittwoch für unverantwortlich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn man im Land unterwegs ist, und zwar nicht nur im Wahlkampf, trifft man den einen oder anderen. Die Menschen begreifen nicht so recht, worüber Sie sich am Mittwoch gefreut haben. Dort haben Sie    das ist Ihr gutes Recht   für die Bundesregierung ein Wachstum von 1,4 Prozent prognostiziert. In derselben Woche hat der IWF für Deutschland ein Wachstum von 1,2 Prozent prognostiziert. Worüber sollen sich die Menschen dann eigentlich genau freuen? Darüber, dass Sie fröhlich vor die Kameras treten und mit Verweis auf einige wenige Quartalszahlen von Unternehmen   unter anderem von Goldman Sachs    sagen: „Es geht uns gut“? Goldman Sachs hat im ersten Quartal einen Gewinn von 3,5 Milliarden Dollar erzielt. Das ist beeindruckend. Die Frage, die Sie als Wirtschaftsminister zu beantworten haben, ist doch nur: Ist diese Zahl ein Beleg für eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung? Oder ist sie nicht eher ein Beleg dafür, dass die Zockerei, die uns in diese Krise gebracht hat, wieder an Fahrt gewinnt?

Wenn in derselben Woche, in der Sie eine Pressekonferenz geben und vor die Kameras treten, von betrügerischen Spekulationen in schier unfasslichem Ausmaß berichtet wird, dann dürfen Sie als Wirtschaftsminister nicht dazu schweigen. Dazu müssen Sie doch Sprache haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Sie haben sie nicht; denn Ihnen fehlt der Mut, zu sagen, wie Sie damit umgehen wollen.

Wenn ich bei dem Thema bin: Ich glaube, diese Bundesregierung muss eines begreifen: Es kann keinen nachhaltigen Aufschwung geben   davon bin ich zutiefst überzeugt  , solange wir den Finanzmärkten keinen wirklich klaren Rahmen geben, für mehr Transparenz und mit klaren Grenzziehungen.

(Beifall bei der SPD)

Ich darf daran erinnern, dass wir mit Peer Steinbrück an der Spitze der weltweiten Diskussion über eine neue internationale Finanzarchitektur standen. Jetzt sind wir allenfalls Zaungast dieser Entwicklung. Das ist die bittere Wahrheit, nicht das, was Sie uns hier vorgetragen haben.

(Beifall bei der SPD)

Herr Brüderle, mir ist ein Weiteres bei Ihrer Rede eben aufgefallen: Das Wachstum, über das wir alle uns gefälligst miteinander zu freuen haben, ist im Grunde genommen ein Wachstum gegen jede Ordnungspolitik. Die Hälfte des Wachstums   Sie haben es nur angedeutet   fußt auf staatlicher Konjunkturpolitik. Das kleinere Problem ist jetzt: Hätten Sie damals, bei Ausbruch der Krise, regiert, dann gäbe es diese Hälfte des Wachstums gar nicht, dann krebsten Sie jetzt bei 0,6 oder 0,7 Prozent Wachstum herum.

(Beifall bei der SPD)

Das größere Problem ist   das nehme ich viel ernster  : Die Wirkungen dieser Konjunkturmaßnahmen werden schwächer und laufen aus. Darauf haben Sie, Herr Brüderle, keine Antwort; wir haben eben keine Antwort gehört. Das ist in einer solchen Lage wirklich dramatisch.

(Beifall bei der SPD)

Ich sage das nicht einfach so dahin, sondern mit Blick auf Ihre Pressekonferenz; ich habe da genau zugehört. Da sagten Sie, es gehe jetzt … um einen sich selbst tragenden Aufschwung. Wir müssen … die richtigen Anreize für Kreativität und Innovationen setzen.

Das stimmt. Herr Brüderle, umso erstaunlicher ist Ihr nächster Satz:

Einen ersten Schritt in diese Richtung hat die Bundesregierung mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz getan.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Daran glauben Sie doch selber nicht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dieses Wachstumsbeschleunigungsgesetz   ich sage es hier noch einmal   beschleunigt alles außer Wachstum. Es ist ein Dankeschöngesetz, ein Klientelgesetz für ein paar Hoteliers. Es verursacht Milliardenausfälle bei den Städten und Gemeinden. Da wird Geld verpulvert, das wir, das auch Sie an anderer Stelle dringend brauchten. Das soll der Beitrag der Bundesregierung zu einem selbsttragenden Aufschwung sein? Ich sage Ihnen: Ganz Deutschland, auch die deutsche Wirtschaft, lacht darüber. Verschonen Sie uns also mit solchen Experimenten!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wir haben es eben gehört: Weil es so schön ist, machen Sie einfach weiter. Ihre steuerpolitischen Vorschläge vom vergangenen Montag haben im Grunde genommen dasselbe Strickmuster: eine Steuerreduzierung um 16 Milliarden Euro   eben haben Sie gesagt: um 16 bis 17 Milliarden Euro  , und das jedes Jahr, obwohl der deutsche Staat schon jetzt mit 1,7 Billionen Euro verschuldet ist. 70 Prozent unserer gesamten Wirtschaftsleistung sind Staatsschulden, Herr Brüderle. Das werfen wir Ihnen nicht gänzlich vor, wahrlich nicht. Aber man kann doch nicht die Augen davor verschließen   auch die FDP nicht  , was das bedeutet, was es für Folgen hat im Hinblick auf die völlig geschrumpften Handlungsspielräume von Regierungen und von Politik. Da ist eben andere Politik vonnöten als das, was Sie hier abgeliefert haben: Heilsversprechen, Steuersenkungspläne, Allgemeinplätze.

Wenn Sie uns das nicht glauben, dann glauben Sie doch wenigstens der OECD oder dem IWF oder glauben Sie es doch wenigstens den Menschen; denn die ahnen doch: Wachstumspolitik auf der einen Seite und leere Kassen auf der anderen Seite, Konsolidierung und gleichzeitig Steuersenkungen   das kann nicht gehen, das wird es nicht geben. Verehrter Herr Brüderle, tun Sie uns deshalb einen Gefallen: Verkaufen Sie die Menschen nicht für dumm!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Menschen ahnen noch etwas. Das Stück, das im Moment auf der Bühne aufgeführt wird, heißt: „Im Himmel ist Jahrmarkt“. Im vierten Akt läuft jetzt die Steuersenkungskomödie. Nach dem 9. Mai 2010 wird die Bühne dann umdekoriert. Das neue Stück, das dann gegeben wird, heißt: „Die Kassen sind leer“. Dann kommt die Wahrheit auf die Menschen zu. Ehrlich ist etwas anderes, Herr Brüderle; aber auch das werden Sie am 9. Mai 2010 merken.

Ein bisschen von der Wahrheit ist trotzdem herausgerutscht, wenn man das Kleingedruckte des steuerpolitischen Vorschlags vom Montag letzter Woche gelesen hat. Wir haben da etwas von Kürzungen bei den Mitteln für aktive Arbeitsmarktpolitik gelesen, von höheren Sozialabgaben und vielleicht auch der Besteuerung der Zuschläge für Nacht- und Schichtarbeit. Sie wollen auch an die Gewerbesteuer heran. Aber Sie wissen: Das wird bei weitem nicht reichen, wenn Sie wirklich bei diesem Steuersenkungsvorhaben bleiben. Deshalb sage ich: Sagen Sie den Menschen die Wahrheit! 16 Milliarden Euro Steuersenkungen bedeuten   zu den 1,6 Milliarden Euro, die den Städten und Gemeinden schon jetzt fehlen   noch einmal 2,5 Milliarden Euro weniger für die Städte und Gemeinden. Dafür werden nicht die Städte und die Oberbürgermeister bluten müssen, sondern die Bürgerinnen und Bürger in den Städten und Gemeinden. Da werden schon jetzt Gebühren erhöht, da werden Bibliotheken, Schwimmbäder und Schauspielhäuser geschlossen. Das raubt den Städten und Gemeinden nicht nur Lebensqualität, sondern bereitet den Ruin der kommunalen Selbstverwaltung vor. Das sage nicht nur ich Ihnen; das sagt auch die Präsidentin des Deutschen Städtetages, Petra Roth, die   jedenfalls bisher nicht   keine bekennende Sozialdemokratin ist. Nehmen Sie das bitte ernst, und brechen Sie mit dieser Politik, die Sie da auf den Weg gebracht haben!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie reden immer von Steuersenkungen. Es sind immer noch die Fragen unbeantwortet, wofür die eigentlich sind und welche Wirkung sie haben. Das haben wir uns einmal sehr genau angeschaut. Die Alleinerziehende mit 16 000 Euro Jahresgehalt spart im Jahr nach Ihrem steuerpolitischen Vorschlag genau 73 Euro.

(Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Das hätte sie bei Ihnen draufgezahlt!)

Das Ehepaar mit 200 000 Euro Jahreseinkommen bekommt nach Ihrem steuerpolitischen Vorschlag zusätzlich über 3 000 Euro. Meine Damen und Herren, ist das wirklich das, was Sie wollen, diese Umverteilung, diese Ungerechtigkeit? Wenn das die Leistung ist, die sich wieder lohnen soll, dann haben wir Herrn Westerwelle doch alle richtig verstanden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es heißt doch: Auch Reichtum muss sich wieder lohnen!)

Ein Letztes zum Thema Ehrlichkeit und damit auch zu dem Thema, das Sie, Herr Brüderle, angesprochen haben: Griechenland. Das ist ein ernstes Thema, von dem ich überzeugt bin, dass es uns alle miteinander hier noch lange beschäftigen wird und beschäftigen muss. Vorab: Wir verweigern uns nicht dem Nachdenken darüber, wie man Griechenland helfen kann. Aber unter dem Gesichtspunkt der Ehrlichkeit: Frau Merkel, Sie haben sich als „Madame Non“   Seite 2 der Bild-Zeitung   auf den Bismarck-Sockel stellen lassen. Sie haben das nicht selbst gemacht, aber sich draufstellen lassen.

(Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Danke schön!)

Wie zu erwarten war, wird nun doch gezahlt. Zu welchen Bedingungen und in welcher Größenordnung, das wissen wir zwar noch nicht; aber das Entscheidende ist   deshalb spreche ich es heute an  : Das, was auf dieses Parlament und auf die deutschen Steuerzahler zukommt, soll dem Parlament nach Ihrer Zeitplanung offenbar auch erst nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen vorgelegt werden. Deshalb meine Bitte: Wenn Sie eine breite parlamentarische Zustimmung in diesem Parlament möchten   und das sollten sie, wenn Sie das Thema Griechenland und die sich daraus ergebenden Folgen ernst nehmen  , dann ist unsere Erwartung, dass Sie das Parlament frühzeitig, noch in dieser Woche, darüber informieren, was auf den Weg gebracht werden soll. Das ist keine Kleinigkeit; es geht um Größenordnungen, die die Stabilität des gesamten Euro-Raums berühren dürften. Wir erwarten, dass für diese wichtige Frage, bei der wir bereit sind, mitzuhelfen, genügend Beratungs- und Diskussionszeit im Parlament zur Verfügung steht. Machen Sie bitte keine Nacht- und Nebelaktion! Betreiben Sie keine Wählertäuschung mit Blick auf den 9. Mai! Seien Sie dem Parlament gegenüber offen, und sagen Sie, zu was Sie unsere Zustimmung erwarten. Dann können Sie auch erwarten, dass sich die SPD einer Mithilfe nicht verweigert.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)