Kulturgüter sind Spiegelbilder menschlicher Identitäten. 95 Prozent aller afrikanischen Objekte aus der Kolonialzeit befinden sich außerhalb des Kontinents. In dieser Zeitspanne wurden nicht nur Kulturgüter widerrechtlich entwendet - es wurden auch Identitäten gestohlen. Dieses Unrecht anzuerkennen und unmissverständlich zu benennen, ist längst überfällig. Es ist an der Zeit, die koloniale Vergangenheit Deutschlands aufzuarbeiten und in der deutschen Erinnerungskultur zu verankern. Wir können die gestohlenen Identitäten nicht mehr zurückgeben. Aber wir können deren geraubte Spiegelbilder dorthin zurückbringen, wo sie entwendet wurden.
Die koloniale Vergangenheit muss aufgearbeitet und in der deutschen Erinnerungskultur verankert werden
Die Debatte um den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit und der Rückgabe von Raubkunst hat in den vergangenen Monaten in Deutschland an Fahrt aufgenommen – auch außerhalb des Feuilletons. Man möchte fast ausrufen: endlich! Unser koloniales Erbe ist mitnichten ein Nischenthema der wissenschaftlichen und kulturellen Fachwelt, sondern ein Thema von gesamtgesellschaftlicher Relevanz. Wir stehen jedoch noch ganz am Anfang. In Deutschland ist ein Prozess in Gang gesetzt worden, der noch viele Jahrzehnte dauern wird. Ein Prozess, der unterschiedliche Arbeitsschritte erfordert: Aufarbeitung der eigenen Schuld, Überwindung der eurozentrischen Weltsicht, Dialog, Herkunftsforschung, Wiedergutmachung und Kooperation.
Was es nun braucht: Aufarbeitung eigener Schuld, Überwindung des Eurozentrismus, Herkunftsforschung und Wiedergutmachung
Der Kolonialismus endete in Deutschland nicht im Jahr 1918 mit dem formalen Ende der Herrschaft über Kolonien. Hegemoniale Diskurse und Strukturen wirken bis heute fort. Und eine Vielzahl musealer Sammlungen in Deutschland entstand zwischen dem 17. und dem frühen 20. Jahrhundert. Dekolonisierung muss darum als andauernder und fortwährender Prozess betrachtet werden. Die Debatte um Rückgabe von Kulturgütern mit kolonialem Kontext ist lediglich ein Ausschnitt davon. Es ist an der Zeit, die Dominanz des Imperialismus aufzubrechen und globales Wissen neu zu betrachten.
Wenn es um die Frage der Rückerstattung von Kunstgegenständen geht, muss es eine neue Kooperation mit den Herkunftsländern geben. Ohne entwicklungspolitischen Gestus – weder in Form der Belehrung, noch in einer Form eines Erbarmens oder eines gut gemeinten Reflexes des Helfenwollens. Wer unter „Shared Heritage“ die sichere Verwahrung der Objekte im Norden meint und dem Süden zugleich gönnerhaft einräumt, vorbeizuschauen, ein wenig mitzuforschen und mitzureden, der kann damit nicht ernsthaft ein „geteiltes Erbe der Welt“ meinen. Objekte aus kolonialen Kontexten wurden in einer Zeit erworben, die von Unrecht, Unterdrückung und Machtungleichgewicht geprägt war. Mit Blick auf die Beweislast kann das nur heißen, dass diese nicht vordergründig bei den Anspruchstellerinnen und -stellern liegen darf.
Die Beweislast darf nicht vordergründig bei den Anspruchstellern liegen
An dieser Stelle wird oft ein Einwand vorgebracht: „Wer stellt denn sicher, dass die restituierten Werke in den Herkunftsländern konservatorisch und restauratorisch unter den gleichen Bedingungen weiterexistieren können?“ Die Antwort ist ganz einfach: niemand. Wir haben uns von dem Geist des Misstrauens und der Bevormundung zu lösen. Es ist nicht an uns, zu entscheiden, was mit den Objekten geschehen soll und wie mit ihnen umzugehen ist. Wir sind nicht in der Position, um Bedingungen zu stellen. Darüber hinaus offenbart sich in der konkreten Forschungszusammenarbeit mit den Herkunftsländern oft ein anderes Bild: es Es gibt sehr häufig eine funktionierende museale Infrastruktur und adäquate Aufbewahrungsmöglichkeiten.
Es ist nicht an uns, zu entscheiden, was mit den Objekten geschehen soll und wie mit ihnen umzugehen ist
Nicht die afrikanischen Länder müssen lernen, ordentlich mit ihren Artefakten umzugehen, sondern wir müssen lernen, die Kontrolle aufzugeben und sie an die Herkunftsländer und -gesellschaften abzugeben. In diesem Fall sind wir gut beraten, die Lernenden zu sein. Vor allem müssen wir lernen, zu verstehen: Wir haben hier nicht mehr das Sagen. Der in einigen deutschen Kultureinrichtungen und manch einer Debatte immer noch vorherrschende Eurozentrismus muss überwunden werden. Das gelingt nur, wenn wir uns mit der afrikanischen Perspektive vertraut machen. Hier leistet das Goethe Institut wertvolle Arbeit. Zu erwähnen ist insbesondere die Projektreihe „Museumsgespräche“, die vor allem den innerafrikanischen Diskurs und Austausch stärken soll. Wir können und müssen von der Perspektive und den Erfahrungen der Herkunftsstaaten und ihrer Expertinnen und Experten lernen.
Der Mehrwert solcher Kooperationen offenbart sich bereits in einigen beispielhaften Projekten zur Erforschung der Herkunft von Sammlungen, beispielsweise am Bremer Übersee-Museum oder bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin. Doch auch die zivilgesellschaftlichen Akteure müssen eingebunden werden. Seit einigen Jahrzehnten melden sich die von den Folgen des Kolonialismus Betroffenen zu Wort. Sie werden bislang allzu wenig gehört. Ebenso wie ihre Forderungen an die Museen und Sammlungen in unserem Land. Das muss sich ändern. Sie benötigen mehr Plattformen, um ihre Perspektive dazustellen und ihre Stimme hörbar zu machen.
Wir müssen uns mit der afrikanischen Perspektive vertraut machen - der Eurozentrismus muss überwunden werden
Der Bruch mit kolonialen Kontinuitäten und die Überwindung der eurozentrischen Perspektive wird nicht über Nacht gelingen. Dieser Illusion dürfen wir uns nicht hingeben. Der Prozess wird uns über Jahrzehnte beschäftigen. Und er wird nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn er in der Mitte unserer Gesellschaft stattfindet. Die Aufarbeitung der deutschen und europäischen Kolonialvergangenheit darf nicht nur den Museen und der Fachöffentlichkeit überlassen werden. Das Thema muss, und das ist ein ausdrücklicher Appell an die Länder, ein fester Teil des Bildungsangebotes werden und in den Lehrplänen, Schulbüchern und Hörsälen Deutschlands präsent sein. Die Überwindung kolonialer Kontinuitäten und die Aufarbeitung der Vergangenheit ist zuallererst eine Leistung in den Köpfen.
Das Thema Kolonialismus muss ein fester Teil des Bildungsangebotes in Lehrplänen, Schulbüchern und Hörsälen werden
Die Regierung hat sich die Aufarbeitung des Kolonialismus im Koalitionsvertrag klar zur Aufgabe gemacht. Bislang haben die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien und das Auswärtige Amt neben Fördergeldern viele kleinere Initiativen nebeneinandergestellt. Als Nächstes bedarf es einer Vision, wohin der Weg in Zukunft führen soll. Wir brauchen ein gesamtgesellschaftliches postkoloniales Erinnerungs- und Restitutionskonzept.
Kulturstaatsministerin Monika Grütters sprach sich im Tagesspiegel für eine aktive Restitution von Kulturgütern aus der Kolonialzeit aus. Sie wolle aktiv auf die Nachfahren der rechtmäßigen Besitzer von Kunstgegenständen aus der Kolonialzeit zugehen, um die Objekte zurückgeben zu können. Die Kulturstaatsministerin hat bislang noch nicht dargelegt, wie diese Ankündigung konkret ausgestaltet werden soll. Ein entsprechendes Konzept muss alsbald vorgelegt werden. Es bleibt zu hoffen, dass Grütters insbesondere in den eigenen Reihen, also in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, für ihr Vorhaben adäquate Unterstützung erfährt.
Abschließend ist anzumerken: Die Angst vor leeren Museen in Deutschland ist unbegründet. Schätzungsweise 80 bis 90 Prozent der Bestände in deutschen Museen lagern in Depots. Die Entfernung der betreffenden Objekte aus kolonialen Kontexten aus den deutschen Museen ist nicht alternativlos. Konzepte zu möglichen Leihgaben oder einer „Zirkulation von Objekten“ , wie es der kamerunische Politikwissenschaftler Achille Mbembe nennt, liegen auf dem Tisch und sind Verhandlungssache. Begrüßens- und unterstützenswert sind auch die Aktivitäten der Benin Dialogue Group zur angemessenen Ausstellung der Kulturgüter. Dabei kooperieren europäische Museen mit nigerianischen Partnern und dem Königshof von Benin. Sowohl bei Leihgaben als auch beim Konzept der Zirkulation ist aber eines zwingend zu beachten: Zunächst müssen die Eigentumsverhältnisse geklärt werden. Wer etwas ausleihen möchte, muss vorher anerkennen, dass es ihm oder ihr nicht gehört. Zudem können Europa und die USA kein „Monopol der Zirkulation“ beanspruchen. Die Entscheidung, an wen und unter welchen Bedingungen sie ihre Artefakte herausgeben wollen, liegt einzig und allein bei den Herkunftsländern.
Die Entscheidung, unter welchen Bedingungen Artefakte herausgeben werden, liegt einzig bei den Herkunftsländern.
Helge Lindh ist stellvertretender Sprecher der Arbeitsgruppe Kultur und Medien der SPD-Bundestagsfraktion.