Eine Marktwirtschaft braucht Mindestlöhne. Fast überall auf der Welt sind sie daher selbstverständlich. Nur in Deutschland ist das bisher anders. Es ist der Sozialdemokratischen Partei in Regierungsverantwortung gelungen, die Zahl der Mindestlöhne in Deutschland auszubauen und für branchenbezogene Mindestlöhne mit dem Arbeitnehmerentsendegesetz und dem Mindestarbeitsbedingungengesetz wirksame Grundlagen zu schaffen. Unabhängig davon braucht Deutschland aber einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn.
Das gilt erst Recht, wenn ab dem 1. Mai 2011 vollständige Freizügigkeit auf dem europäischen Arbeitsmarkt herrscht. Das darf nicht der Beginn eines Wettbewerbs um Dumpinglöhne werden. Der gesetzliche Mindestlohn sollte so ausfallen, dass eine Arbeitnehmerin, ein Arbeitnehmer sicher sein kann, bei Vollzeittätigkeit ohne öffentliche Hilfe den eigenen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Der Deutsche Gewerkschaftbund schlägt deshalb zurecht einen Mindestlohn von 8, 50 Euro vor.
Rund 70 Prozent der im Niedriglohnsektor Tätigen sind Frauen. Sie würden von der Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohnes besonders profitieren.
Niedriglöhne nehmen zu, der Steuerzahler zahlt drauf
Der deutsche und der europäischen Arbeitsmarkt sind unfair geworden. Globaler Wettbewerb und die Wirtschafts- und Finanzkrise bringen die Arbeitsmärkte unter Druck. Weltweit steigt die Arbeitslosigkeit wieder an, auch in Deutschland, und Armutslöhne breiten sich aus. 20 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeiten in Deutschland im sogenannten „Niedriglohnsektor“. Über 5 Millionen Menschen arbeiten für weniger als 8 Euro pro Stunde. Mindestens 1,2 Millionen arbeiten für weniger als 5 Euro pro Stunde. Und mindestens 1,3 Millionen Menschen müssen nach der Arbeit noch staatliche Unterstützung erhalten, weil ihre Löhne zu niedrig sind, um wenigstens das gesetzliche Existenzminimum abzusichern (sogenannte „Aufstocker“). Unter diesen Menschen im „Niedriglohnsektor“ wächst die Zahl von qualifizierten Arbeitskräften.
Die Definitionen des Niedriglohnsektors sind in der Wissenschaft nicht einheitlich. In Anlehnung an die OECD wird Niedriglohn als ein Bruttolohn bezeichnet, der unterhalb von zwei Dritteln des nationalen Medianbruttolohns aller Vollzeitbeschäftigten liegt. Der Median ist der Wert, der die Anzahl der Löhne genau in zwei Hälften teilt. Diese Schwelle liegt in Deutschland bei 1.800 Euro brutto im Monat.
Der Niedriglohnsektor in Deutschland hat zugenommen. Sehr hoch ist der Anteil von Beschäftigten mit Niedriglohn bei Friseurinnen und Friseuren (85 %), Taxifahrerinnen und -fahrern (82 %), Leiharbeitern (77 %), Beschäftigten in Wäschereien und chemischen Reinigungen (65 %), der Gastronomie (63 %), Hotellerie (61 %) sowie in der Gebäudereinigung (56 %). Einer Studie der Universität Duisburg zufolge ist schlecht bezahlte Arbeit nicht länger nur ein Problem der Ungelernten: 67,5 % der Niedriglohnbeschäftigten können eine abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen, nur knapp ein Viertel besitzt keine Qualifikationen.
Menschen, die einen Niedriglohn bekommen, arbeiten zum Teil für unter sechs Euro pro Stunde. Jeder dritte Niedriglohnbeschäftigte arbeitet für weniger als 6 Euro brutto, 1,2 Millionen Betroffene sogar weniger als 5 Euro.
„Aufstocker“ – Lohndumping auf Staatskosten
Jeder, der am Arbeitsmarkt nicht genug Einkommen für seinen Lebensunterhalt verdient, hat Anspruch auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen. Im Juni 2009 hatten nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit rund 1,3 Millionen Erwerbstätige in Deutschland einen so niedrigen Lohn, dass sie „aufstocken“, also staatliche Transferleistungen in Anspruch nehmen mussten. Sogar 425.000 Vollzeitbeschäftigte bekamen ergänzende Hartz-IV-Leistungen. Die Hans-Böckler-Stiftung geht davon aus, dass darüber hinaus noch über eine halbe Million Beschäftigte einen Anspruch auf ergänzende Grundsicherung haben, ihn aber nicht einlösen, weil sie nicht wissen, was ihnen zusteht, oder weil sie aus Scham den Gang zum Jobcenter vermeiden.
Grundsicherung in Kombination mit Niedriglöhnen ist also letztendlich nichts anderes als Lohndumping auf Kosten des Steuerzahlers und zu Lasten des Sozialstaates. Dieses Vorgehen mancher Arbeitgeber ist nicht zu tolerieren.
Deutschland steht ohne Mindestlohn europaweit im Abseits
Die meisten europäischen Länder haben bereits einen Mindestlohn eingeführt. Sie schützen damit ihren nationalen Arbeitsmarkt - auch vor der fortschreitenden Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes. Mit unserer Forderung nach einem Mindestlohn in Höhe von 7,50 Euro bewegen wir uns im europäischen Mittelfeld. Mehrere unserer Nachbarländer haben höhere Mindestlöhne (z. B. Großbritannien, Frankreich, die Niederlande oder Luxemburg). Und sie widerlegen ein Hauptargument der Kritiker: Mindestlöhne vernichten keine Arbeitsplätze und verhindern keinen Wettbewerb. Die Niederlande und Irland beispielsweise haben eine höhere Beshcäftigungsquote als Deutschland. Beide Länder verfügen über eine Volkswirtschaft, die sich mit unserer vergleichen lässt. In Großbritannien wurden seit der Einführung des Mindestlohns 1999 1,7 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen.
Rede von Anton Schaaf Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales vom 23.04.2010