„Ich konnte mir noch Anfang 1989 nicht vorstellen, dass die Mauer fällt“, sagte zu Beginn der Veranstaltung SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann, der selbst im ehemaligen so genannten Zonenrandgebiet Niedersachsens aufgewachsen ist. Schon gar nicht habe er sich vorstellen können, dass der Mauerfall das Resultat einer friedlichen Revolution in der DDR sein würde. Anders als 1949 hätten die Menschen in der DDR ihre Freiheit und Demokratie selbst erkämpft.

Ausgangspunkt der Diskussion war die Rede von Erhard Eppler (SPD), die er am 17. Juni 1989 im Bundestag hielt. Sie handelte vom bevorstehenden Ende der DDR-Führung, weil diese die politischen Veränderungen in ihren so genannten Bruderstaaten und auch die Entwicklungen im eigenen Land ignorierte. 

Gemeinsam mit Erhard Eppler diskutierten Thomas Krüger (Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung), der im Oktober 1989 mit mehr als 40 anderen Mutigen die Sozialdemokratische Partei der DDR (zunächst SDP) gründete, Wolfgang Thierse (ehemaliger Bundestagspräsident), der sich zunächst dem Neuen Forum anschloss und im Januar 1990 Mitglied der SPD wurde, und Iris Gleicke (Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Länder), die sich 1989 in Thüringen engagierte und seit 1990 Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion ist. Moderiert wurde die Diskussion von Daniela Kolbe, Sprecherin der Landesgruppe Ost in der SPD-Bundestagsfraktion, die die Ereignisse vor 25 Jahren als Neunjährige erlebte.

Eppler prophezeit Ende der DDR-Führung im Juni 1989

Der mittlerweile 88-jährige Erhard Eppler erinnerte sich, dass er sich nicht sicher war, ob er mit seiner These vom bevorstehenden Ende der DDR-Führung in seiner Rede die Stimmung traf, die im Westen zu dieser Zeit herrschte. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl habe seiner Rede erst zugehört, als er davon sprach, dass die SED wohl nicht mehr lange durchhalten werde. Doch als Eppler die Zusammenarbeit von SPD und Union für diesen Fall vorschlug, habe es den Kanzler schon nicht mehr interessiert. Zu seiner These war Eppler gelangt, weil er über drei verschiedene Informationsquellen verfügte: Kontakte innerhalb der SED, zur evangelischen Kirche in der DDR und Personen, die wie Friedrich Schorlemmer und Heino Falcke als Gegner des DDR-Regimes galten. Letzterem hatte Eppler als einzigem seine Rede zum Lesen gegeben und der habe ihm gesagt: „Du musst das so machen“. Eppler sprach in seiner Rede von dem dünnen Eis, auf dem sich die SED bewege, welches das tauende Eis des Kalten Krieges sei. Wer sich darauf nicht bewege, aus Angst einzubrechen, werde dem kalten Wasser nicht entkommen.

„Die da oben können nicht mehr und wir hier unten wollen nicht mehr“

Wolfgang Thierse berichtete von der analytischen Kraft in der Rede von Eppler. Denn sie fiel in die Zeit als der Wahlbetrug bei den DDR-Kommunalwahlen im Mai 1989 offensichtlich wurde und Egon Krenz die blutige Niederschlagung der Demonstration auf dem Pekinger Tian’anmen-Platz eiskalt rechtfertigte und damit ausdrückte, das könnte auch in der DDR passieren. „Wir hatten in der DDR eine eigene doppelt verworrene Wahrnehmung. Die hieß: ‚So kann es nicht mehr weitergehen. Aber es läuft ja noch‘“, berichtete Thierse. Erst die Fluchtwelle im Sommer 1989 habe dazu geführt, dass „viele das Gefühl hatten, für Veränderungen auf die Straße gehen zu müssen“. Der Eindruck etwas ändern zu können, habe auch mit den Reformen von Michail Gorbatschow in der Sowjetunion und den Veränderungen in Polen und Ungarn zu tun gehabt. Deshalb habe es 1989 geheißen: „Jetzt oder nie: Freiheit und Demokratie“. Zuvor habe man seit dem Arbeiteraufstand in der DDR im Juni 1953, den Aufständen in Ungarn 1956 und 1957 in Polen sowie dem Prager Frühling 1968 immer erlebt, dass Proteste niedergewalzt wurden. Die bittere Enttäuschung und Verzweiflung in der DDR habe dazu geführt, dass die Gruppen, die sich im Schutz der Kirche gebildet hatten, Mut hatten und lauter wurden. Genau in diese Stimmung – „Die da oben können nicht mehr und wir hier unten wollen nicht mehr“ passe auch die SDP-Gründung im brandenburgischen Schwante.

Bei der Kommunalwahl in der DDR nachgezählt

Jeder habe seine eigenen Erinnerungen und es gebe die unterschiedlichsten Erzählungen (Narrative) über den Herbst 1989 und die Zeit bis zur Einheit, stellte Thomas Krüger klar. Er war 29 Jahre alt und sei ein Zyniker gewesen, als „wir auf die Idee gekommen sind, bei der Kommunalwahl die Ergebnisse nachzuzählen.“ Auch nach 18:00 Uhr seien er und andere am 7. Mai 1989 im Wahllokal geblieben. Etwa 84 Prozent hätten der Wahlliste mit den Kandidaten der Nationalen Front zugestimmt, aber Krenz verkündete einen Wahlsieg von mehr als 98 Prozent. Später sei ein „Erdrutsch“ in Gang gekommen. „Es war nicht klar, ob es die polnische Lösung eines Runden Tisches oder die chinesische Lösung mit Erschießungen geben würde“, sagte Krüger. „An Tagen sind ganze Jahre vergangen“ beschrieb er den Herbst 1989. Die Veränderungen seien wie „im Zeitraffer“ passiert, denn „wer hat im Sommer damit gerechnet, dass die Welt im November eine andere ist“. Krüger berichtete, dass die Maueröffnung die Bürgerbewegung zunächst in „eine Schockstarre“ versetzte.

Leistung der Ostdeutschen im Einigungsprozess anerkennen

„Mein Hauptgefühl war Angst“, erinnerte sich Iris Gleicke an den Herbst 1989. Aber sie sei trotzdem im November mit anderen aus dem 5.000-Einwohner-Dorf in Thüringen auf die Straße gegangen. Auch dort habe einem die Volkspolizei gegenüber gestanden. Die Zeit nach dem 9. November 1989 sei für sie „aufregend und schlaflos“ gewesen, als die Runden Tische gegründet und vor Ort Dinge angepackt wurden. Deshalb „ärgert es mich, wenn heute Leute verächtlich über Kommunalpolitik sprechen“, sagte Gleicke. Am 9. November habe man sich „mit Tränen mit wildfremden Menschen in den Armen gelegen“. Daran habe sie sich erinnert als sie 25 Jahre danach in Berlin mit internationalen Besuchern bis in die Nacht die Maueröffnung von 1989 gefeiert habe. Gleicke stören die „Erbsenzähler“, die heute die Wiedervereinigung nach den Kosten bewerten. Es sei klar, „ohne die Solidarität des Westens hätten wir das nicht geschafft, aber für uns Ostler ist kein Stein auf dem anderen geblieben“. Das Leben in der DDR sei ein „Leben voller Widersprüche gewesen“. Auch, wenn sie gewusst habe, „dass die Stasi mittanzte“, sei sie gern tanzen gegangen. Es sei ein alltäglicher Abwägungsprozess gewesen. „Trotzdem stand auf unseren Schildern: Wir bleiben hier!“, so Gleicke. Sie will, dass die „Transformationserfahrungen und die Leistungen der Ostdeutschen“ im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung anerkannt werden.

Konservative Legende und Aufarbeitung der DDR-Geschichte

Erhard Eppler brachte seinen Unmut über die konservative Legende zum Ausdruck, nach der die Union die Einheit wollte und „die Linken das verraten habe“. Dabei sei die Deutsche Einheit eine Selbstverständlichkeit für die SPD gewesen. Kohl habe von Anfang an der Einheitsmacher sein wollen, dies habe vor allem Hans-Jochen Vogel geärgert, der 1989 immer wieder die Zusammenarbeit angeboten habe.

Einig waren sich die drei Diskutierenden, dass die DDR als Diktatur ein Unrechtsstaat gewesen ist. Doch sie sei auch, so Thierse, ein Sozialstaat und ein Kulturstaat mit einer DDR-Solidargemeinschaft gewesen, die sich gegenseitig beim alltäglichen Mangel unterstützte. Anders als Gregor Gysi (Linke) ist Thierse der Meinung, dass der Begriff „Unrechtsstaat nicht die Menschen“ delegitimiere, sondern, dass deren Eintreten für Demokratie, freie Wahlen und Reisefreiheit die DDR delegitimiert habe. Die meisten hätten „ein richtiges Leben im falschen System geführt“. Die Forschung und der Zugang zu den Stasiakten müssten auch in Zukunft erhalten bleiben, sagte Thierse. Er sei sich aber nicht sicher, ob man dafür eine Behörde (Stasiunterlagenbehörde) brauche.

Die DDR sei im Vergleich zur Nazi-Zeit sehr gut beforscht, stellte Thomas Krüger fest. „Geschichte hat mit Orientierung in der Gegenwart zu tun“, sagte er. Deshalb treibe ihn um, wie den nächsten Generationen die Geschichte vermittelt werde. Er plädierte für eine integrierte deutsche Nachkriegsgeschichte, die Tragik und Brisanz des geteilten Deutschlands in ein gemeinsames Narrativ bringe. Dem widersprach Thierse, denn die Menschen im Osten hätten an Teilung und Einheit härter zu tragen gehabt: „Diese Geschichte ist schief.“ Krüger trat dafür ein, dass gerade eine integrierte Geschichtserzählung die Unterschiede sichtbar mache. Iris Gleicke forderte ein, dass das „Erinnern kein Erstarren“ mit Denkmälern und Kränzen werden dürfe. Die Menschen in der DDR könnten nicht nur in Opfer und Täter eingeteilt werden. Wichtig sei es, „den Alltag in der DDR zu beschreiben“. Dies sei die einzige Möglichkeit gegen Verherrlichung und Schlechtreden. Deshalb habe sie auch darauf bestanden, dem Bericht zur deutschen Einheit in diesem Jahr den Satz voranzustellen: „Die überwiegende Mehrzahl der Menschen in der DDR hat versucht, ein anständiges Leben zu führen“. Oft seien die Erinnerungen auch ambivalent mit Stolz auf den Mut verbunden und mit Scham, wenn man sich rausgehalten habe. Allen gemeinsam war die Ablehnung der Geschichtsklitterung, wie sie von den Konservativen und einigen Medien betrieben werde, die den Menschen in der DDR ihren Anteil am Ende der DDR absprechen will.

Nach einer mehr als zweistündigen, lebhaften und auch mal kontroversen Diskussion sagte Wolfgang Tiefensee, wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und  Vorsitzender des Forums Ostdeutschland der SPD, in seinem Schlusswort: „Ich staune, welche Kraft wir damals besessen haben, ohne zu wissen wie das endet“. Mit Blick auf die Gegenwart mahnte er an, dass diejenigen, die damals im Westen als Flüchtlinge angenommen wurden, nun nicht dafür eintreten dürften Flüchtlinge aus Krisengebieten fernzuhalten. 

 

>> Fotos der Veranstaltungen finden Sie im Flickr-Fotoalbum "25 Jahre friedliche Revolution - Veranstaltung am 3.12.2014"

 

Anja Linnekugel