Deutschland steht im Vergleich zu seinen europäischen Nachbarn sehr gut da, die Zahl der Arbeitslosen ist mit unter drei Millionen so niedrig wie lange nicht mehr. Kann man sich als Politiker auf diesem Feld zurücklehnen?
Anette Kramme: Zurücklehnen nein. Es ist richtig, dass wir aus den Zeiten der Massenarbeitslosigkeit raus sind, und das verschafft uns natürlich Erleichterung. Trotzdem haben wir nach wie vor eine Menge Problemgruppen am Arbeitsmarkt. Ich denke da vor allem an die Langzeitarbeitslosen. Daneben sind es ältere Arbeitnehmer und Menschen mit Migrationshintergrund, die keine Beschäftigung finden. Wir müssen in der Arbeitsmarktpolitik umsteuern, auch deshalb, weil mit dem Fachkräftemangel ein neues Problem auf uns zukommt. In einzelnen Bereichen gibt es bereits heute Engpässe bei den Fachkräften.
Wo liegen die Ursachen für diese eher paradoxe Arbeitsmarktsituation – zu viele Langzeitarbeitslose, aber zu wenig Fachkräfte?
Anette Kramme: Es sind in vielen Fällen Qualifikationsdefizite. Von den SGB-II-Empfängern haben 53 Prozent keine Berufsausbildung. 23 Prozent haben nicht mal einen Schulabschluss. Damit kommen sie für viele Tätigkeiten nicht in Frage.
Ist Bildung heute noch wichtiger als früher?
Ernst Dieter Rossmann: Bildung ist persönlich wie gesellschaftlich unersetzlich und Bildung wird auch ökonomischer immer wichtiger. Bildung ist die Grundlage dafür, in Beschäftigung zu kommen und in Beschäftigung zu bleiben. Von daher hat das Thema oberste Priorität.
Wie kann man präventiv gegen die Langzeitarbeitslosigkeit vorbeugen?
Anette Kramme: Wir müssen dafür sorgen, dass junge Menschen eine gute Schulausbildung haben, eine gute Berufsausbildung oder einen guten akademischen Abschluss. Bildung verhindert Arbeitslosigkeit, das war schon immer so und das wird in der Zukunft erst recht gelten.
Warum ist gerade die Ganztagsschule besser geeignet, um Schüler auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten?
Ernst Dieter Rossmann: Erst einmal hat die Ganztagsschule ihren Hauptgrund nicht in der Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt. Der Hauptgrund für die Ganztagsschulen liegt darin, dass es für alle Beteiligten die bessere Schule ist: Die Schüler haben mehr Zeit in der Schule, die Eltern werden entlastet, auch dadurch dass in der Regel keine Hausaufgaben mehr gemacht werden müssen, und auch für die Lehrkräfte ist es deutlich entspannter. Wir haben also einen großen Nutzen für alle drei an der Schule beteiligten Gruppen: Schüler, Eltern und Lehrer.
Zum Zweiten sorgen Ganztagsschulen für eine größere soziale Integration durch ein längeres soziales Miteinander und einen sozialen Austausch. Sie wirken integrierend für verschiedene Schichten und Herkunftsgruppen. Und dann gibt es die Perspektive, dass sie kulturelle Schlüsselqualifikationen fördert, auf es in der weiteren beruflichen Laufbahn ankommt. Dort, wo es Ganztagsschulen gibt, gibt es weniger Kinder, die gar nicht in das Bildungssystem integriert sind.
Nicht in das Bildungssystem integriert sind in Deutschland auch ca. 1,5 Millionen junge Erwachsene zwischen 20 und 30 Jahren, die keine Berufsausbildung haben. Wenn Bildung so wichtig ist, wo liegen die Ursachen hierfür?
Ernst Dieter Rossmann: Das hat etwas damit zu tun, dass wir in der schulischen Grundbildung noch nicht gut genug sind. Diese 1,5 Millionen bauen sich auch auf über die 70.000 jungen Menschen, die jedes Jahr ohne Schulabschluss aus der Schule gehen. Dazu kommen diejenigen, die einen unzureichenden Schulabschluss haben und diejenigen, die in der beruflichen oder akademischen Ausbildung nicht erfolgreich sind. An der Stelle müssen wir so ansetzen, dass wir weniger Berufsausbildungsabbrüche haben, dass wir weniger Studienabbrüche haben und das ganze System, wie wir die Menschen zu einem erfolgreichen Bildungsabschluss führen, von Grund auf besser wird. Und zwar so, dass es auch zusätzliche zweite und dritte Chancen gibt.
Anette Kramme: Ein weiterer Grund ist sicherlich, dass viele junge Leute in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit keine Ausbildungsplätze gefunden hatten. Es gab einfach nicht genügend Angebote. Das bedeutet aber nicht, dass man sie jetzt noch 30 oder 40 Jahre ungelernt auf dem Arbeitsmarkt belassen kann. Wir brauchen ein Programm der „Zweiten Chance“. Es muss möglich sein, jederzeit eine Berufsausbildung nachzuholen. Das tut dem Einzelnen gut, und auch unsere Gesellschaft kann es sich nicht leisten, auf brachliegende Potentiale zu verzichten, gerade wegen des wachsenden Fachkräftebedarfs.
Welche Möglichkeiten hat man bei den Langzeitarbeitslosen?
Anette Kramme: Bei den Langzeitarbeitslosen brauchen wir Maßnahmen, die sehr langfristig angelegt sein müssen. Erst einmal geht es – zumindest manchmal – darum, Menschen überhaupt wieder in Gesellschaft zu bringen In einem zweiten Schritt müssen wir sie oft nachqualifizieren. Das sind keine Projekte, die auf drei, vier Monate ausgelegt sind. Da muss man viel Geduld aufbringen und manchmal braucht man, wenn man ehrlich ist, 3-5 Jahre für eine Reintegration.
Bildung verhindert Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig ist es so, dass selbst ein Hochschulabschluss keine Jobgarantie bedeutet. Auch Akademiker landen in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Wie passt das zusammen?
Anette Kramme: Trotzdem gilt, dass die Arbeitslosigkeit bei gut Qualifizierten niedriger ist als bei schlecht Qualifizierten. Um prekäre Jobs zu verhindern, müssen wir bei der Ordnung am Arbeitsmarkt ansetzen.
Was heißt das konkret?
Anette Kramme: Wir müssen zum Beispiel über eine Lösung des Problems „Generation Praktikum“ nachdenken. Das Problem ist ja, dass Praktikanten oft als Arbeitnehmer eingesetzt werden. Dagegen kann man zum Beispiel mit einer Vermutungsregelung vorgehen, sie also erst einmal als Arbeitnehmer sehen und die Beweislast zu Lasten der Arbeitgeber umkehren. Ein zweites Problem sind die befristeten Arbeitsverhältnisse, die bei fast 50 Prozent aller Neueinstellungen vorliegen. Die könnten wir zurückfahren, indem wir die Befristung ohne Sachgrund nicht mehr zulassen.
Was sind die Ziele Eurer beiden Projektgruppen, wie genau geht Ihr vor?
Ernst Dieter Rossmann: Zum einen wollen wir mit unserem Projekt ein Leitbild von guter Ganztagsschule entwickeln. Dazu haben wir Praktiker und Schulleiter von besonders guten Ganztagsschulen aus ganz Deutschland eingeladen. Daneben arbeiten wir zusammen mit den Fachkräften aus wichtigen Verbänden und den kommunalen Spitzenverbänden. Gleichzeitig gibt es die quantitative Frage: Wo stehen wir in Deutschland, und wo müssen wir noch hin, um den Anschluss an andere europäische Länder zu finden? Wir wollen hier zu einer echten Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe kommen. Dabei steht das 4-Milliarden- Ganztagsschulprojekt von Edelgard Bulmahn und Gerhard Schröder aus 2003 Pate. Es ist damals in ganz Deutschland bestens angenommen worden und hier wollen wir mit einem zweiten Ganztagsschulprogramm anknüpfen.
Anette Kramme: Unser Ziel ist es, die SPD innovativer zu machen, und zwar in allen Bereichen der Politik. Wir wollen die Maßstäbe für Politik in der Bundesrepublik Deutschland bestimmen. Beim Projekt „Ordnung für Arbeit“ geht es einerseits darum, dass wir klassische Probleme lösen: Zum Beispiel einen Mindestlohn einführen oder die Leiharbeit zurückdrängen. Aber da geht es auch um eine moderne Ausgestaltung der Mitbestimmung. Wenn Arbeitnehmer ein Leben lang fort- und weitergebildet werden, müssen auch die Betriebsräte in diesen Dingen mitbestimmen können. Daneben bin ich der Auffassung, dass Betriebsräte auch ein Recht brauchen, beim Gesundheitsmanagement und bei der Gesundheitsförderung mitzubestimmen. Das sind nach meiner Auffassung innovative Ideen für die Bundesrepublik Deutschland.
Im Projekt Zukunft gibt es sieben Projektgruppen aus unterschiedlichen Politikfeldern. Wie bringt man das am Ende zusammen, was soll aus Eurer Sich am Ende dabei rauskommen?
Anette Kramme: Am Ende wird dabei ein Leitfaden für die SPD-Bundestagsfraktion rauskommen, und zwar für die künftige Regierungsarbeit. Selbstverständlich muss so etwas auch in das Wahlprogramm der Partei fließen. Die Fraktion kann hier mit Sicherheit wichtige Ideen liefern.
Ernst Dieter Rossmann: Wir wollen einerseits ein gutes Programm und einen Orientierungsrahmen für das praktische Tun. Gleichzeitig wollen wir aber auch Bewusstsein schaffen und mit befreundeten Organisationen den Boden so lockern, dass diese Zukunftsideen in der Öffentlichkeit eine stärkere Unterstützung finden. Es ist also nicht nur der Text, sondern es ist auch das Werben um Unterstützung für diese Zukunftsideen. Und die Fraktion hat aus diesem Zukunftsdialog heraus die Partei schon jetzt auf bestimmte Positionen hingeführt: zum Beispiel, dass wir für Bildung ein 20 Milliarden-Programm schnüren wollen, finanziert über eine Besteuerung von großen Vermögen, großen Erbschaften und großen Einkommen. So etwas macht dann den Kommunen, den Trägern auch Mut, dass eben nicht nur auf Papier geschrieben ist, sondern auch eine finanzielle Unterlegung bekommt.