Es gibt in der SPD-Fraktion unterschiedliche Auffassungen: Für einen Teil der Fraktionsmitglieder entspricht die Beschneidung von Jungen dem Kindeswohl, weil ihnen damit die Zugehörigkeit zur Religion ihrer Eltern gegeben wird. Die Kinder könnten so in der Geborgenheit dieser Gemeinschaft aufwachsen. Dazu wollen sie dieses Ritual unter bestimmten Auflagen zulassen, um jüdisches und muslimisches Leben ohne diesbezügliche Einschränkungen auch weiterhin möglich zu machen. Und deshalb befürworten die Abgeordneten den Gesetzentwurf der Bundesregierung sowie die Änderungsanträge aus den Reihen der Fraktion, die ihn verbessern. Für einen anderen Teil steht das Recht auf körperliche Unversehrtheit im Mittelpunkt. Sie wollen die Beschneidung erst ab dem 14. Lebensjahr nach Zustimmung der Jungen ermöglichen und unterstützen aus diesem Grund einen entsprechenden Gesetzentwurf. Die Abgeordneten der SPD haben über die Regelung der Beschneidung ihrem Gewissen gemäß entschieden
Respektvolle und ernsthafte Debatte
Frank-Walter Steinmeier äußerte in der Debatte, er hoffe wegen der Tragweite der Entscheidung auf ein klares Votum für die Legalisierung der Beschneidung. Das Prinzip der religiösen Toleranz sei ein Kern der europäischen Aufklärung. Er nannte es „unerträglich“, wenn Deutschland das erste Land in Europa wäre, „das nichtärztliche jüdische Beschneider mit dem Staatsanwalt verfolgt. Und das ab morgen, nach mehreren tausend Jahren Geschichte!“
Rede von Frank-Walter Steinmeier
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Daran knüpfte SPD-Fraktionsvizin Christine Lambrecht an und verwies auf den grundsätzlichen Schutz von Gesundheit und Leben im Judentum. Danach dürfe kein Junge beschnitten werden, wenn für ihn gesundheitliche Gefahren bestünden. Jüdische Eltern hätten ein eigenes Interesse, ihre Söhne keiner gesundheitlichen Gefährdung auszusetzen.
Rede von Christine Lambrecht
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Die Integrationsbeauftragte der SPD-Fraktion, Aydan Özoğuz, stellte klar, dass der Bundestag nicht über inhaltliche Definitionen des Judentums und Islams zu entscheiden hätte. Muslime und Juden dürften nicht kriminalisiert werden, deshalb müsse die Politik einen Weg finden, der jüdisches und muslimisches Leben in Deutschland möglich mache.
Rede von Aydan Özoğuz
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Die Kinderbeauftragte der SPD-Fraktion, Marlene Rupprecht, sagte, das Elternrecht sei nicht grenzenlos, sondern werde durch die Menschenrechte und das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit eingeschränkt. Ein irreversibler und massiver Eingriff wie die Beschneidung brauche deshalb die Einwilligung der Betroffenen, die dazu ein Alter von 14 Jahren haben sollten, was der Religionsmündigkeit entspricht.
Rede von Marlene Rupprecht
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Der Bundestag hat mit großer Mehrheit den Gesetzentwurf der Bundesregierung verabschiedet. Die Änderungsanträge aus den Reihen der SPD-Fraktion fanden keine Mehrheit, dies hatte SPD-Fraktionschef Frank Walter Steinmeier bereits in seiner Rede bedauert.
Zum Hintergrund:
Religiöse Beschneidung von Jungen gesetzlich nicht geregelt – aber üblich
Mehr als 60 Jahre, seit Bestehen der Bundesrepublik, aber auch zuvor bis 1933, war die medizinisch nicht indizierte Beschneidung in Deutschland für jüdische sowie für muslimische Eltern möglich. Es gab zwar keine gesetzliche Regelung, doch dieses für beide Religionen konstitutive Ritual war üblich. Jüdische Jungen sollen nach der Tora am achten Tag beschnitten werden. Im Islam gilt eine Zeitspanne vom siebten Lebenstag bis zur Geschlechtsreife. In der Regel sind die muslimischen Jungen sechs bis acht Jahre alt.
Ein Urteil verunsichert Juden, Muslime, Beschneider und Ärzte
Erst im Mai dieses Jahres urteilte das Kölner Landgericht, dass die Beschneidung eine Körperverletzung ist. Der Arzt, der die Beschneidung vorgenommen hatte, wurde freigesprochen, da er auf Grund der unklaren Rechtslage davon ausgehen konnte, dass der Eingriff erlaubt ist. Auf Grund dieses Urteils entstand große Verunsicherung auf Seiten jüdischer und muslimischer Eltern sowie bei Beschneidern (Mohalim) und Ärzten.
Gesetzgeber muss eine Regelung finden
Der Gesetzgeber musste eine Entscheidung herbeiführen, weil nach dem Urteil Eltern und Ärzte strafrechtlich hätten belangt werden können. Damit wäre Deutschland das erste Land, in dem die religiöse Beschneidung von minderjährigen Jungen nicht möglich ist. Deshalb hatte der Bundestag im Sommer die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die betroffenen Rechtsgüter abwägt und jüdisches sowie muslimisches Leben weiterhin in Deutschland möglich macht.
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht vor, dass Eltern ihre nicht einsichts- und urteilsfähigen Söhne ohne medizinische Indikation beschneiden lassen können, wenn die Beschneidung nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt wird und keine gesundheitlichen Gründe dagegen sprechen. Ebenso soll der Zweck der Beschneidung berücksichtigt werden. In den ersten sechs Lebensmonaten eines männlichen Säuglings darf die Beschneidung auch von religiösen Beschneidern (Mohalim) durchgeführt werden, wenn sie dazu ausgebildet worden sind. Der Bundestag hat den Gesetzentwurf mit breiter Mehrheit beschlossen.
Gegenentwurf aus den Reihen des Parlaments
Ein weiterer Gesetzentwurf, initiiert von der Kinderbeauftragten der SPD-Fraktion Marlene Rupprecht sowie den kinderpolitischen Sprecherinnen der Grünen und der Linken, stellt allein das Kindeswohl und ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit in den Fokus. Deshalb soll die Beschneidung nur an einsichts- und urteilsfähigen 14-jährigen Jungen vorgenommen werden, wenn diese damit einverstanden sind. Zudem sollen nur Kinderchirurgen und Urologen den Eingriff vornehmen. Der Gesetzentwurf fand nur wenig Zustimmung und wurde abgelehnt.
Änderungsanträge aus den Reihen der SPD-Fraktion
Um den Gesetzentwurf der Regierung zu verbessern wurden zwei Änderungsanträge aus den Reihen der SPD-Fraktion eingebracht. Ein Antrag sieht u. a. vor, dass in jedem Fall ein Arzt die Eltern vor dem Eingriff aufklären muss. Für die Beschneidung sollen allgemeine Standards gelten, eine qualifizierte Schmerzbehandlung und Nachsorge sowie eine angemessene und wirkungsvolle Betäubung sind zu gewährleisten. Außerdem soll eine Rechtsverordnung Ausbildung und Befähigungsnachweis nichtärztlicher Beschneider regeln. Die Feststellung der gesundheitlichen Unbedenklichkeit des Eingriffs sei zu standardisieren und konkretisieren. Fünf Jahre nach Inkrafttreten soll das Gesetz evaluiert werden. Der Änderungsantrag beruht auf den Empfehlungen des Ethikrates.
Ein weiterer Antrag will die Frist, innerhalb der der Eingriff von nichtärtzlichen Beschneidern vorgenommen werden darf, von sechs auf zwei Monate verkürzen. Er orientiert sich damit an der schwedischen Regelung, auf die auch Sachverständige verwiesen hatten. Beide Änderungsentwürfe wurden von der Koalitionsmehrheit abgelehnt.