Sind Sie nach der Wahl in Österreich erleichtert?

Oppermann: Ja, denn ein Sieg des FPÖ-Kandidaten hätte zu einer tiefen Spaltung des Landes geführt – und zwar von oben. Das war ein Warnschuss, den wir nicht überhören dürfen. Die Konsequenz muss eine solide, vernünftige Flüchtlingspolitik sein.

„Ein Durchmarsch der Populisten ist in keinem Land mehr ausgeschlossen“, haben Sie gesagt. Das gilt auch für Deutschland? Glauben Sie, dass österreichische Ergebnisse hierzulande möglich sind?

Oppermann: Das dürfen Sie nicht so verstehen, dass Populisten nicht mehr gestoppt werden könnten. Aber dass die AfD in Sachsen-Anhalt aus dem Stand 26 Prozent erreicht, macht mir Sorge. Dagegen muss etwas getan werden. Das ist ein Weckruf.

Es hat in letzter Zeit viele Weckrufe auch in Deutschland gegeben, aber bislang keine konkreten Konsequenzen.

Oppermann: Es stimmt: Am Ende zählt nur, was wir wirklich tun. Deswegen setzt die SPD seit Beginn der Flüchtlingskrise darauf, dass die Gesellschaft nicht gespalten wird. Das Bundeskabinett hat gestern das Integrationsgesetz verabschiedet, das auf dem Grundsatz Fördern und Fordern basiert. Weiterhin ist für uns Sozialdemokraten wichtig, dass, wer jahrzehntelang gearbeitet hat, als Rentner nicht unter dem Sozialhilfeniveau landen darf. Dass sie mehr bekommen als Leute, die gar nicht gearbeitet haben, ist eine ganz zentrale Gerechtigkeitsfrage. Deshalb wird Arbeitsministerin Nahles im Herbst einen Vorschlag für die Solidarrente machen.

Was wird neben diesem Thema und der Flüchtlingspolitik inhaltlich entscheidend sein für die Bundestagswahl im kommenden Jahr?

Oppermann: Sicherheit. Viele Menschen sind verunsichert und spüren, dass vieles, worauf man sich verlassen hat, nicht mehr gewiss ist. Das spüren sie im Alltag, am Arbeitsplatz, unter dem Einfluss von Multimedia und Internet. Soziale Kontakte verändern sich. Arbeitsplätze gehen verloren, neue entstehen, von denen man nicht weiß, wie sicher sie sind. Der Umbruch ist ähnlich einschneidend wie jener der Industriellen Revolution. Sicherheit im Wandel wird unser großes Thema sein und natürlich ein effektiver Schutz vor Kriminalität und Terror.

Was wollen Sie tun? Mehr Polizei? Höhere Strafen?

Oppermann: Sicherheit wird immer von Menschen gemacht. Deshalb brauchen wir mehr Personal. Bei der Polizei ist zu viel gespart worden. Die SPD hat für 3000 neue Stellen bei der Bundespolizei gesorgt. Wir wollen insgesamt 6000 dort und noch einmal 6000 in den Ländern. Der Staat muss wieder als Garant der öffentlichen Sicherheit wahrgenommen werden. Wir benötigen keine schärferen Gesetze mit höheren Strafen. Das schreckt Täter nicht ab, sondern nur das Risiko, entdeckt und gefasst und schnell bestraft zu werden. Also: mehr Personal!

In der Flüchtlingspolitik gibt es Differenzen zwischen den Koalitionsparteien. Was werfen Sie der Kanzlerin konkret vor?

Oppermann: Sie hat ihre Flüchtlingspolitik nicht erklärt, sie hat nicht gesagt, was die Ziele und wo die Grenzen sind. Die Parole „Wir schaffen das“ reicht nicht. Es geht darum, klar zu machen, wie wir es schaffen. Darauf hat Sigmar Gabriel von Beginn an hingewiesen.

Hatten Sie vor dem Türkei-Besuch der Kanzlerin Anfang der Woche ernste Sorgen, dass sie mit dem türkischen Präsidenten Erdogan nicht Klartext spricht?

Oppermann: Ich habe die Sorge vor Missverständnissen. Wir sind nicht epressbar. Daran darf nicht der geringste Zweifel aufkommen.

Sie trauen der Kanzlerin nicht zu, dass sie gegenüber Erdogan die gegenteilige Haltung einnimmt?

Oppermann: Doch, das traue ich ihr zu. Ich nehme auch an, dass sie das getan hat.

Also war es nötig, die Kanzlerin vor deren Türkei-Besuch zu Beginn der Woche öffentlich so unter Erwartungsdruck zu setzen, wie Sie es getan haben?

Oppermann: Ich kann doch viel offener reden, als die Kanzlerin. Das ist doch gut. Die Vereinbarung mit der Türkei wird in der Bevölkerung sehr skeptisch beurteilt. Ich will für dieses Abkommen kämpfen, denn die EU-Außengrenze in der Ägäis kann ohne Kooperation mit der Türkei nicht kontrolliert werden. Die Türkei braucht Hilfe, sie ist Nato-Partner, und der Deal funktioniert bisher. Die Türken halten ihre Zusagen ein. Sie haben rund 2,7 Millionen Flüchtlinge im Land; das ist weit mehr als in allen EU-Ländern zusammen; es ist uns zumindest vorübergehend gelungen, die Schlepper in der Ägäis auszuschalten. Darum  ist es richtig, der Türkei zu helfen, damit es diesen Flüchtlingen besser geht. Die Gesundheitsvorsorge und der Zugang zu Bildung müssen verbessert werden; das sind die beiden größten Probleme.

Eine Lösung ist das noch nicht.

Oppermann: Es ist nur eine Atempause. Der Migrationsdruck wird bleiben, selbst wenn der Krieg in Syrien irgendwann zu Ende gehen sollte. Die Bevölkerung Afrikas wird sich bis 2050 auf rund 2,4 Milliarden verdoppeln, während die Zahl der Europäer bei 500 Millionen stagnieren wird. Wir haben hier eine alternde und im Süden eine junge, dynamische Gesellschaft, die nicht allen eine Perspektive bieten kann. Die EU muss also eine vernünftige Einwanderungspolitik entwickeln. Sie muss die Migration unter Kontrolle bringen. Das Chaos vom letzten Herbst darf sich nicht wiederholen.

Wen machen Sie für das Chaos verantwortlich? Die Kanzlerin? Oder haben Sie Mitgefühl mit ihr, weil sie Horst Seehofer an ihrer Seite hat?

Oppermann: Beide haben den schweren Fehler gemacht, ihren Streit in der Flüchtlingspolitik über Monate öffentlich zu inszenieren. Das hat maßgeblich zum Aufstieg der AfD beigetragen, weil es das Bild von einem Staat vermittelte, dessen gewählte Demokraten nur reden und nicht handeln. Europa muss seine Außengrenzen sichern, den Einwanderungsprozess verlässlich kontrollieren und das EU-Budget umschichten – auch, um die Fluchtursachen in Nordafrika zu bekämpfen. Und wir brauchen ein vernünftiges Einwanderungskonzept mit Obergrenzen. Das ist allerdings auch klar: Wir in Deutschland werden weiter Flüchtlinge aufnehmen müssen – aber auf geordnetem Weg und nicht auf eine Weise, die dazu beigetragen hat, die AfD stark zu machen.

Sollte sie stark bleiben oder gar noch stärker werden, sollten im nächsten Bundestag womöglich sechs Parteien vertreten sein, könnten Sie nach der Bundestagswahl 2017 in der großen Koalition hängen bleiben.

Oppermann: Eine Große Koalition ist immer ein Zweckbündnis auf Zeit. Ob wir sie fortsetzen oder ein besseres Bündnis finden, entscheidet allein der Wähler.

Was ist das Haupthindernis für eine Koalition mit der Linken? Die grundsätzlichen Differenzen in der Außen-, Europa- und Verteidigungspolitik?

Oppermann: Das auch, aber die Hauptfrage ist, ob man wirklich auf Dauer verlässlich zusammenarbeiten kann. Wenn bei jeder wichtigen Frage ein Großkonflikt entsteht, kann eine Koalition das nicht durchhalten. Verlässlichkeit in einer Koalition bedeutet auch, dass ein Partner Entscheidungen mittragen muss, die er allein nie getroffen hätte. Das ist derzeit in der Großen Koalition nicht anders. Daraus können innerparteiliche Differenzen entstehen, das wissen wir Sozialdemokraten genau. Derzeit sind die inneren Probleme in der Union allerdings größer als die bei uns.

Dennoch wären Sie froh, wenn Sie deren Probleme hätten.

Oppermann: Wir wollen in den Umfragen vor der Union liegen, das stimmt.

Dann würden Sie auch gerne deren Probleme aushalten.

Oppermann: Das nehmen wir dann gerne in Kauf.

Wie dramatisch ist die Situation für die SPD?

Oppermann: Die Flüchtlingskrise und der Erfolg der AfD machen allen Parteien zu schaffen. Es gibt hierzulande Angst, dass die Flüchtlinge Konkurrenten um Jobs und bezahlbare Wohnungen sind. Sigmar Gabriel ist dem – im Gegensatz zu Angela Merkel und Horst Seehofer – früh entgegengetreten, indem er Zuversicht und Realismus gefordert hat. Die SPD hat früher als alle anderen gesagt, dass Deutschland nicht jedes Jahr eine Million Flüchtlinge aufnehmen kann. Aber wir haben humanitäre Verpflichtungen und Bedarf nach geregelter Einwanderung. Wir dürfen nicht zulassen, dass arme Flüchtlinge gegen benachteiligte Deutsche ausgespielt werden. Wir haben schon im Herbst ein Integrations- und ein Einwanderungsgesetz gefordert. Jetzt ist das Integrationsgesetz verabschiedet worden; das ist eine historische Zäsur. Die Debatte, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist, haben wir damit im Grunde beendet. Deutschland ist Einwanderungsland. Und genau deswegen brauchen wir nun auch ein Einwanderungsgesetz. Die SPD wird einen Entwurf dafür bis zum Herbst vorlegen.

Jetzt sind Sie der Frage nach der desolaten Lage der SPD geschickt ausgewichen. Wie stark ist der Druck der Basis auf die Parteispitze?

Oppermann: Unsere Mitglieder erwarten, dass die SPD-Führung zusammenhält. Jeder Sozialdemokrat weiß, dass die SPD in Deutschland gebraucht wird. Es stimmt mich aber positiv, dass die Führung genau das weiß und deswegen eng zusammen steht.

Das sagt sogar die Union.

Oppermann: Sogar die, aber auf deren Mitgefühl sind wir nicht angewiesen. In einer Zeit, da sich die Idee der Sozialdemokratie überall durchsetzt, ist es schwierig geworden, Alleinstellungsmerkmale zu finden. Aber wir werden zur Bundestagswahl im Herbst 2017 ein Programm vorlegen, das soziale Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt in den Mittelpunkt stellt. Da werden wir uns klar von der Union unterscheiden.

Das allein wird nicht reichen. Nach der Wahl sind regierungsfähige Mehrheiten nötig. Und das wird schwierig.

Oppermann: Ja. Deshalb wird es auch vor der nächsten Bundestagswahl von keiner Partei klare Koalitionsaussagen geben, schon gar nicht den Ausschluss irgendwelcher Bündnisvarianten; für uns geht es natürlich nicht mit der AfD, für die Union nicht mit der Linken.

Sie schließen also die Linke als Koalitionspartner nicht aus, obwohl sie nach Ihren eigenen Worten eben nicht verlässlich und regierungstauglich ist?

Oppermann: Wohin sich die Linke entwickelt, weiß ich noch nicht. Das muss die Linke zu aller erst selber klären. Ich weiß nicht, ob sie nach 2017 auf Dietmar Bartsch oder auf Sarah Wagenknecht setzt. Das ist aber ein Riesenunterschied.

Welche realistische Alternative zur großen Koalition können Sie denn überhaupt anbieten?

Oppermann: Ich schaue mich um und blicke zum Beispiel auf Rheinland-Pfalz (Rot-Gelb-Grün). Das gesamte Parteiensystem ist im Umbruch. Alte Bindungen und Loyalitäten sind schwächer geworden. Die Leute entscheiden von Wahl zu Wahl neu.

Und im nächsten Jahr müssen sie sich in der Kanzlerfrage zwischen Merkel und wem entscheiden?

Oppermann: Unser Kanzlerkandidat wird zum Programm passen, er wird regierungs- und wahlkampferfahren sein.

Das ist noch etwas unpräzise.

Oppermann: Ja, wir haben viele davon. Diese Wahl wird unter anderen Bedingungen laufen als bisherige Bundestagswahlen. Frau Merkel ist auch nicht mehr unangreifbar und unbesiegbar; diesen Nimbus hat sie verloren. Unsere Chancen werden da sein.

Wie wollen Sie denn aus der Regierung heraus Opposition machen? Können Sie im Wahlkampf auf Distanz zur eigenen Regierungspolitik gehen?

Oppermann: Es sind noch eineinhalb Jahre bis zur Bundestagswahl. Jetzt ist kein Wahlkampf. Wir müssen noch ein Jahr lang gut regieren und wichtige Gesetze verabschieden zu Leiharbeit, Werkverträgen, Teilhabe für Behinderte, Entgeltgleichheit von Männern und Frauen und Erbschaftsteuer. Trotzdem werden wir wie die Union zunehmend darauf achten, voneinander unterscheidbar zu sein. Das ist ganz legitim. Es wird im kommenden Jahr eine Entflechtung der Koalitionsparteien geben.

Was wird aus der Abgeltungsteuer? Wie verändert sich die Erbschaftsteuer?

Oppermann: Ich bin dafür, die Abgeltungssteuer auf Kapitaleinkünfte in die Einkommensteuer zu überführen. Das ist überfällig. Wir wollen das längst, Finanzminister Schäuble hat es bislang aber abgeblockt. Die Erbschaftsteuer ist mit großzügigen Freibeträgen ordnungspolitisch richtig. Denn jede Generation muss einen Teil des Wohlstands, den sie genießt, selbst erwirtschaften. Das brauchen wir schon für die Dynamik und Innovation unserer Gesellschaft.

Im Fall Böhmermann hat die SPD im Bundeskabinett eine Niederlage erlitten, weil die Kanzlerin gegen Ihren Willen die Justiz ermächtigt hat, gegen den Satiriker wegen Beleidigung eines Staatsoberhauptes zu ermitteln.

Oppermann: Frau Merkel hat mit dieser Entscheidung einen schweren Fehler gemacht und zuvor schon dadurch, dass sie gegen Böhmermann Partei ergriffen hat. Sie will den „Majestätsbeleidigungsparagrafen“ im Fall Erdogan nochmal anwenden und dann erst abschaffen. Wir wollen ihn sofort abschaffen. Die Bundesregierung kommt in eine heikle Lage, wenn sie sich als Justiz-Schiedsrichterin aufspielt und den Weg freimacht für Strafverfolgung ihrer eigenen Bürger auf Wunsch ausländischer Staatsoberhäupter. Das wollen wir nicht mehr. Frau Merkel will, dass gegen Böhmermann noch einmal ermittelt wird, aber danach soll Schluss sein. Das erschließt sich mir nicht.

Böhmermann hat mit seinem Schmähgedicht den Unsinn jenes Paragrafen entlarvt.

Oppermann: Ja, er hat damit Rechtsgeschichte geschrieben. Durch sein Gedicht hat er die Grundlage für die Abschaffung der Majestätsbeleidigung gelegt.