Deutschland ist eines der wenigen Länder Europas, in dem es keinen gesetzlichen Mindestlohn für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gibt. Weshalb ist es der SPD-Bundestagsfraktion so wichtig, dass ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wird?

Mindestlöhne sind eine Frage der Gerechtigkeit. Es ist schlicht nicht akzeptabel, wenn jemand trotz Vollzeitarbeit nicht genug zum Leben hat und seinen Lohn mit Hartz-IV aufstocken muss. Im Jahr 2010 betraf das immerhin 331.000 vollzeitbeschäftigte Menschen. Selbst Löhne unter 5 Euro sind keine Seltenheit mehr. Mit solch miesen Löhnen wird menschliche Arbeit entwertet. Und die schwarzen Schafe unter den Arbeitgebern üben damit auch Druck aus auf diejenigen, die eigentlich besser zahlen wollen.

Außerdem kann es nicht sein, dass der Steuerzahler für die Dumpinglöhne schlechter Arbeitgeber geradestehen muss. Zwischen 2005 und 2011 hat der Staat zur Aufstockung unzureichender Löhne 53 Milliarden Euro ausgegeben! Wir dürfen nicht zulassen, dass sich Firmen aus der Verantwortung stehlen und ihre Arbeitnehmer und den Staat ausbeuten. Deshalb brauchen wir einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn.

Die Gegner eines gesetzlichen Mindestlohns sprechen davon, dass es durch seine Einführung zum Abbau von Arbeitsplätzen kommt. Stimmt das?

Natürlich kommt es auf die Höhe an. Ein Mindestlohn von 20 Euro würde bestimmt Jobs kosten, ein moderater Mindestlohn aber nicht. In England wurde 1999 ein Mindestlohn eingeführt, ohne dass es irgendwelche Jobverluste gab. Auch aus den USA gibt es diverse empirische Studien (z.B. von Card/Krüger), die feststellen: Mindestlöhne vernichten nicht automatisch Arbeitsplätze. Selbst unser eigenes Arbeitsministerium musste letztes Jahr anerkennen, dass die neuen Branchenmindestlöhne in Deutschland keine Jobs vernichtet haben. Das Märchen vom Jobverlust ist eine Volksverdummung der Konservativen.

Mittlerweile gibt es auch in der schwarz-gelben Koalition Überlegungen, die Lohnentwicklung nach unten zu begrenzen. Wie ernst müssen die Ankündigungen genommen werden?

Das meiste ist Wahlkampfgetöse. Die Union ist sich untereinander nicht einig, und mit der FDP werden sie sich erst recht nicht einigen – zumindest nicht auf eine wirksame Lösung. Mit beiden Parteien sind allenfalls weitere branchenspezifische Grenzen möglich, aber eben kein richtiger Mindestlohn. Vor allem in der FDP herrscht immer noch der Geist Westerwelles, der einst sagte: „Mindestlohn ist DDR ohne Mauer“.

Was unterscheidet das Mindestlohn-Modell der SPD-Bundestagsfraktion von dem der schwarz-gelben Koalition?

Wenn die SPD Mindestlohn sagt, meint sie eine bundesweit einheitliche ‚rote Linie‘ von 8.50 Euro, egal für welche Arbeit und in welcher Stadt.

Wenn die Union von Lohnuntergrenzen spricht, meint sie einen Flickenteppich von Dutzenden verschiedenen Grenzen je nach Region und Branche. Die müssten alle erst mühsam ausgehandelt werden, das bräuchte viel Zeit. Für den Einzelnen bliebe es schwer durchschaubar, welcher Lohn eigentlich für ihn gilt.

Ein weiterer Haken im Unionsmodell: Man will Lohnuntergrenzen nur für Branchen ohne Tarifvertrag. Das heißt auch: Jede Lohnuntergrenze wird sofort verdrängt, wenn später doch ein Tarifvertrag geschlossen wird – selbst mit niedrigeren Löhnen. Auch auf anderem Weg könnten Arbeitgeber die Lohnuntergrenzen der Union unterlaufen. Es reicht nämlich sogar die Bezugnahme auf einen (beliebigen anderen) Tarifvertrag im Arbeitsvertrag. Selbst ein Branchenbezug ist nicht nötig; d.h. Schlachter könnten zum Floristentarif, Maurer zum Friseurtarif eingestellt werden.

Mehr Lohngerechtigkeit wird es mit dem Modell der Union nicht geben.

Sind denn die Lohnuntergrenzen überhaupt geeignet, zu verhindern, dass Beschäftigte trotz Vollzeitarbeit ihre Löhne mit Leistungen der Grundsicherung aufstocken müssen? Was bringt es also für die Beschäftigten?

Bei den schwarz-gelben Lohnuntergrenzen käme es darauf an, wie hoch sie jeweils sind. Gäbe es mit Schwarz-Gelb z.B. eine Lohnuntergrenze von 5 Euro für Frisöre, müssten die trotzdem aufstocken. Unser SPD-Mindestlohn von 8.50 Euro ist hingegen so berechnet, dass eine alleinstehende Vollzeitkraft davon ohne zusätzliche Hilfe leben kann.

Birgt ein gesetzlicher Mindestlohn nicht die Gefahr, dass dann alle nur noch diese Summe zahlen, aber keiner mehr einen höheren Stundensatz?

Nein, der Mindestlohn wäre ja nur die rote Linie nach unten. Auf diesem Fundament können die Tarifpartner jederzeit höhere Abschlüsse vereinbaren. Im Dachdecker-handwerk z.B. gilt heute schon ein Branchen-Mindestlohn von 11,20 Europro Stunde, und wahrscheinlich würde die Gewerkschaft in der nächsten Lohnrunde trotzdem für eine Erhöhung kämpfen. Mindestlöhne verhindern nur den Druck nach unten, nach oben bleibt alles offen.

Hat ein flächendeckender Mindestlohn Auswirkungen auf die öffentlichen Kassen?

Auf jeden Fall. Das Prognos Institut veröffentlichte dazu 2011 eine Untersuchung. Bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro brutto würden rund fünf Millionen Erwerbstätige profitieren, die bisher weniger verdienen. Das bedeutet zusätzliche Einkommensteuer-zahlungen in Höhe von 2,7 Milliarden Euro sowie zusätzliche Sozialbeiträge von 2,7 Miiliarden Euro. Auf der anderen Seite würden die staatlichen Sozialtransfersysteme um 1,7 Milliarden Euro entlastet, weil eben z.B. weniger aufstockendes Hartz-IV gezahlt wurde.

Wie wird die Höhe unseres Modells festgelegt?

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales soll eine Mindestlohnkommission einrichten. Diese soll aus insg. neun Personen bestehen (drittelparitätisch aus Vertretern der Arbeitgeberverbände, der Gewerkschaften und der Wissenschaft) und einmal im Jahr einen geeigneten Mindestlohn vorschlagen, der jedoch nicht unter 8.50 Euro pro Stunde liegen darf. Durch diese Besetzung soll garantiert sein, dass sich keine Seite mit ausufernden Forderungen durchsetzt, sondern ein vernünftiger Kompromiss gefunden wird. Das steht so auch in unserem Gesetzentwurf. Der wartet nur darauf, dass wir an die Regierung kommen und ihn umsetzen!