In der 2. und 3. Lesung des Entwurfes der Regierungskoalition und eines Entwurfs der SPD-Fraktion (Drs. 17/5895) begründet der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann, warum die SPD gegen das Gesetz der Koalition beim Bundesverfassungsgericht klagen wird. Oppermann: „Der Entwurf ist nicht nur handwerklich schlecht gemacht, er beseitigt auch nicht das negative Stimmengewicht und neutralisiert auch nicht die Überhangmandate.“ Wähler müssten aber damit rechnen können, dass ihre Stimme der jeweiligen Partei auch nützt. Beim Entwurf der Regierungsfraktionen sei das nicht der Fall. „Wahlrecht ist Demokratierecht“, sagte Oppermann. Es müsse fehlerfrei und unmanipulierbar sein.
Jede Stimme muss gleich viel wert sein
Gegenwärtig aber bilde es Mehrheiten nicht richtig ab. Das Problem mit den Überhangmandaten beispielsweise müsse endlich geklärt weden. Sie sind, so Oppermann, verfassungsrechtlich nicht mehr haltbar. Und da es demnächst wohl ein Sieben-Parteien-Parlament gebe, würde es wohl noch viel mehr Überhangmandate geben, wenn sie nicht abgeschafft werden. Oppermann verwies auf ein Schreiben von CDU-Fraktionschef Volker Kauder, der vor einigen Jahren darin selbst formuliert hatte, dass es rechtliche Bedenken bei den Überhangmandaten gebe.
Oppermann begründete seine Haltung damit, dass Überhangmadate für eine regionale Ungleichverteilung der Mandate sorgen, dass sie die Chancengleichheit verletzen und dass sie die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag umdrehen können. Oppermann: „Jede Stimme muss gleich viel wert sein.“
Die SPD hat den Entwurf der Koalition im Bundestag abgelehnt. Unser Entwurf wurde mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt.
Warum ist das Wahlrecht verfassungswidrig?
Beanstandet hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil 2008 eine Paradoxie im deutschen Wahlrecht: das so genannte negative Stimmgewicht. Von negativem Stimmgewicht spricht man, wenn eine Partei zwar mehr Zweitstimmen erhält, dadurch allerdings Mandate verliert – oder umgekehrt Mandate gewinnt, obwohl sie weniger Zweitstimmen erhält. Ausgangsfall vor dem Bundesverfassungsgericht war die Dresdner Nachwahl zum Bundestag am 2. Oktober 2005. Hätte die CDU dort rund 40.000 Zweitstimmen hinzugewonnen, hätte sie im Ergebnis weniger Abgeordnete in den Bundestag geschickt. Aus dem Überhangmandat in Dresden wäre ein reguläres Listenmandat in Sachsen geworden. Dafür hätte die CDU aber ein Listenmandat in Nordrhein-Westfahlen verloren. Bei einem solch verzerrenden Wahlrecht können sich die Bürgerinnen und Bürger nicht darauf verlassen, dass ihre Stimme ihrer Partei nützt. Das hat das Bundesverfassungsgericht zu Recht beanstandet.
Überhangmandate verletzen die Gleichheit im Wahlrecht
Noch gravierender verzerren Überhangmandate die Wirkung von Wählerstimmen. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach Zweitstimmen eigentlich zustehen. Lange Zeit war die Zahl der Überhangmandate im Bundestag überschaubar. Bis einschließlich 1990 waren es nie mehr als sechs Überhangmandate. Bei der letzten Bundestagswahl hat die CDU/CSU 24 Überhangmandate gewonnen – so viele wie nie zuvor. 24 Überhangmandate stellen bereits 4 Prozent der regulären Gesamtzahl der Parlamentssitze. Das ist wie eine sechste Fraktion im Bundestag. Die Tendenz ist steigend: Die Zahl der Überhangmandate wird bei einer größeren Anzahl erfolgreicher Parteien und geringerer Wahlbeteiligung weiter anwachsen. 24 Überhangmandate bedeuten auch: Keine von den 1,5 Millionen Wählerstimmen, die man normalerweise braucht, um diese Anzahl an Mandaten zu gewinnen, musste sich die Union verdienen. Sie hat diese Mandate extra obendrauf bekommen.
Bei einem knappen Ergebnis bei der nächsten Bundestagswahl bergen Überhangmandate zudem die Gefahr, dass die Parteien mit den meisten Zweitstimmen nicht die Mehrheit der Sitze im Bundestag haben. Die Überhangmandate können den im Zweitstimmenergebnis dokumentierten Wählerwillen umdrehen. Wenn das passiert, dann verlieren die Wählerinnen und Wähler das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie. Das kann eine Verfassungskrise auslösen.
Unser Vorschlag: Ausgleichsmandate für Überhangmandate
Ein verfassungskonformes Wahlrecht muss deshalb nicht nur das negative Stimmgewicht beseitigen, sondern auch die Überhangmandate neutralisieren. Wir haben dazu rechtzeitig einen Gesetzentwurf vorgelegt. Diesen Entwurf hat der Bundestag am 26. Mai 2011 beraten.
Unser Gesetzentwurf sieht vor, dass für Überhangmandate Ausgleichsmandate gewährt werden. Dadurch wird die Proportionalität des Zweitstimmenergebnisses wieder hergestellt. Außerdem gewährleisten Ausgleichsmandate, dass die Stimmabgabe für eine Partei dieser Partei auch tatsächlich nützt. Die Wählerinnen und Wähler können sich dann wieder darauf verlassen, dass sie mit ihrer Stimme auch das bewirken, was sie beabsichtigt haben.
Wir räumen ein: Durch Ausgleichsmandate und Überhangmandate besteht die Gefahr, dass der Bundestag größer werden kann. So wäre der Bundestag durch Ausgleichsmandate bei der Bundestagswahl 2009 von 622 auf 666 Mandate angewachsen. Deshalb sagen wir: Nach der nächsten Bundestagswahl werden wir auswerten, wie sich die Ausgleichsmandate tatsächlich ausgewirkt haben. Hat sich das Parlament dann unverhältnismäßig vergrößert, wären wir bereit, die Direktwahlkreise maßvoll zu reduzieren. Dadurch könnten wir den Bundestag wieder verkleinern. Zudem: Wenn es mehr Listenmandate als Direktmandate gibt, können weniger Überhangmandate entstehen.