Er ist es nicht. Denn die Krise stellt ein Wachstum infrage, das durch Spekulationen befeuert wird, um dann in kürzester Zeit wie ein Kartenhaus in sich zusammenzufallen. Sie stellt ein Wachstum infrage, das durch den Raubbau an Ressourcen dem Wohlstand von morgen die Grundlage entzieht. Sie stellt ein Wachstum infrage, das wenige bereichert und immer mehr Menschen abhängt.

Die Krise hat uns drastisch vor Augen geführt: Vieles von dem, was wir für Wachstum und Wertschöpfung gehalten haben, war in Wahrheit keines. Und wenn wir diese Erkenntnis teilen, dann müssen wir heute nicht nur bestimmte Fehlentwicklungen im Finanzsektor kritisieren, sondern wir müssen grundlegend hinterfragen, was uns eigentlich als Wert und Wohlstand gilt. Wir müssen die Ziele und Maßstäbe unseres Wirtschaftens neu definieren. Es gilt, nachhaltige Lebensqualität und gesellschaftlichen Fortschritt in den Mittelpunkt zu rücken.

"Das Bruttoinlandsprodukt misst alles, nur nicht das, was das Leben lebenswert macht", sagte Robert Kennedy 1968. Der Zustand der Umwelt, das Niveau von Gesundheit und Bildung, Sicherheit, politische Teilhabe und Zugang zu Arbeit, aber auch die Verfügbarkeit von freier Zeit - all das erfasst das BIP nicht. Auch über die Verteilung von Wohlstand und Lebenschancen gibt das BIP keine Auskunft. Dabei zeigen uns Studien, dass extremere Ungleichheit alle, Arme wie Reiche, unzufriedener macht. Doch das BIP-Wachstum der letzten Jahrzehnte ging in vielen Ländern mit stark wachsender Ungleichheit einher. Individueller Wohlstand ist eben mehr als ein voller Kühlschrank und gesellschaftlicher Reichtum ist mehr als die Summe aller Bankkonten.

Diese Kritik am BIP ist nicht neu. Wir kennen sie spätestens seit 1972, als der Club of Rome vor den Folgen blinder Wachstumsgläubigkeit gewarnt hat. Doch vier Jahrzehnte später ist die Debatte noch an einem ähnlichen Punkt - und in der Zwischenzeit verengten Wissenschaft und Politik ihren Fokus gar noch stärker auf das Wachstum des BIP als Maßstab für richtig und falsch. Woran es uns mangelt, ist nicht die Kenntnis des Problems, sondern eine sichtbare und erstrebenswerte Alternative.

Schreckensszenarien von der Klimakatastrophe oder dem Ende der Arbeitsgesellschaft, Predigten von Verzicht auf Industrie und technologische Entwicklung sind genauso falsch wie kontraproduktiv, um für eine andere, bessere Wirtschaftsweise zu begeistern. Wir brauchen vielmehr eine neue Qualität der wirtschaftlichen Entwicklung, die auf nachhaltige Lebensqualität ausgerichtet ist und die Teilhabe und soziale Sicherheit zukunftsfähig macht. Wir dürfen uns nach der Krise nicht in biedermeierlicher Manier auf alte Glaubenssätze mit grünem Anstrich zurückziehen, sondern wir brauchen eine neue Vision von sozial-ökologischem Wachstum, kurz: von Fortschritt.

Die Fraktionen von SPD und Grünen setzen sich dafür ein, dass der Deutsche Bundestag dieser Herausforderung in einer "Fortschritts-Enquête" nachgeht. Gemeinsam mit Gesellschaft und Wissenschaft wollen wir ein neues Fortschrittsbild entwerfen, das der heutigen Wirtschaftsdoktrin einen neuen Maßstab entgegenstellt. Dafür müssen wir erstens untersuchen, welches, über die Grenzen des BIP hinaus, die wesentlichen Faktoren für Lebensqualität und gesellschaftliches Zusammenleben sind, und zweitens, wie man diese adäquat messen kann. Und drittens wollen wir uns fragen, wie man die Faktoren in einem ganzheitlichen "Fortschritts-Indikator" zusammenführen kann.

Natürlich erfordern Auswahl, Messung und Gewichtung dieser Faktoren eine Vielzahl von Werturteilen. Gerade deshalb fordern wir eine breite gesellschaftliche Debatte, für die das deutsche Parlament die angemessene Plattform bietet. Die Politik darf sich in ihrem Tagesgeschäft der Pflaster und Gipse nicht genügen - auch nicht, wenn die amtierende Regierung selbst damit schon überfordert scheint.

Dem BIP einen ganzheitlichen Fortschritts-Indikator entgegenzustellen, ist keine akademische Trockenübung für Volkswirte und Statistiker. Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft sind wie Seefahrer, die für ihren Kurs auf einen möglichst verlässlichen Kompass angewiesen sind. Die Qualität ihrer Entscheidungen hängt davon ab, was ihr Kompass misst und wie akkurat er es misst.

Wenn wir unseren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kurs verbessern wollen, dann brauchen wir einen neuen Kompass. Politiker aller Parteien fordern heute, es dürfe nach der Krise kein einfaches "Weiter so!" geben. Einen neuen Maßstab von Fortschritt zu finden, ist der erste Schritt, um mit diesem Versprechen ernst zu machen.