Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
So wie kein Mieter das Recht hat, in seiner Wohnung Feuer anzuzünden, mit der Berufung auf die Heiligkeit des Heims, so wenig dürfen Staaten ohne Gefährdung des Friedens Innenpolitik auf eigene Faust machen, soweit diese den Frieden in Frage stellt. Wir wohnen nicht mehr in einzelnen Festungen des Mittelalters, wir wohnen in einem Haus. Und dieses Haus heißt Europa.
So hat es der große deutsche Schriftsteller Kurt Tucholsky 1926 formuliert.
Heute sind wir an dem Punkt, dass wir uns 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erneut mit einer sehr brisanten Situation auseinandersetzen müssen, über die wir hier im Plenum schon einmal in dieser Woche diskutiert haben, über die wir im Ausschuss diskutiert haben und über die wir heute auch in dieser gemeinsamen Debatte diskutieren. Es geht erneut darum, den Prozess der Einigung Europas zu behandeln und kritisch zu betrachten und dabei eine gute, friedliche Perspektive zu finden.
Seit dem 21. November demonstrieren Menschen in der Ukraine für Menschenrechte, Freiheit und Demokratie, gegen Korruption und soziale Ungerechtigkeit und für eine gute Zukunft ihres Landes. Die Demonstrationen waren am Anfang gewaltfrei. Wir wissen aber: Je länger so etwas dauert, umso gereizter werden die Gemüter und umso eher verbreitet sich auch Gewalt.
Ich glaube, uns eint hier die gemeinsame Auffassung, dass eine friedliche Lösung gefunden werden muss, dass eine gewaltfreie Lösung gefunden werden muss und dass die Ukraine eine gute, demokratische, den Menschenrechten gerecht werdende Perspektive in Europa haben muss.
Die Bundesregierung und Außenminister Steinmeier haben mit der notwendigen Klarheit und, ich sage auch, mit der gebotenen Sensibilität reagiert, Telefonate und Gespräche mit Staatspräsident Janukowitsch und den Oppositionsvertretern geführt. Ich denke, dass es gut war, den Einfluss Deutschlands wahrzunehmen. Die heute beginnende Sicherheitskonferenz in München wird eine weitere Gelegenheit sein, Versuche zu unternehmen, die Konflikte zu lösen. Ich glaube, dass diese Perspektive der Ukraine so ausgerichtet sein muss, dass Freiheit, Demokratie und Menschenrechte eine Zukunft haben. Ich sage auch ganz deutlich: Rechtsextremistische und nationalistisch orientierte Kräfte, die gegen diese Werte kämpfen, werden dabei nicht hilfreich sein.
Erste Schritte sind gemacht, repressive Gesetze zurückgenommen worden, insbesondere was die Demonstrations- und Versammlungsfreiheit angeht. Die Regierung ist zurückgetreten. Das sind gute Zeichen, wenn sie nicht Taktik sein sollen, wenn es nicht darum geht, Zeit zu schinden. Das, was versprochen und zugesagt worden ist, muss jetzt auch belastbar eingehalten und darf nicht mit neuen Bedingungen verknüpft werden. Ich denke, es gilt ganz klar: Die Verhafteten sind freizulassen. Das Schicksal der Verschleppten, deren Situation bis heute nicht geklärt ist, ist aufzuklären. 2000 Verletzte, 500 auf Seiten der Polizei, 6 Tote, 30 Vermisste sind genug. Jetzt muss Schluss sein.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN ? Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zu viele!)
Ja, richtig. Es sind zu viele.
Bei dem jetzigen Prozess brauchen wir keine Fackelträger nach dem Motto „Augen zu und durch“, weil nur der kleinste Funke dazu führen kann, dass etwas entsteht, was wir alle nicht wollen. Deswegen ist Zurückhaltung angesagt. Es gilt, auch ein bisschen Vorsicht bei den Vermittlern walten zu lassen, die jetzt schon Schlange stehen. Die Betroffenen selbst müssen entscheiden, wer vermittelt. Aber wenn sie Hilfe brauchen, dann sollen sie es sagen. Wir haben ihnen an dieser Stelle dabei Rat zu geben.
Ich glaube, dass es auch darum geht, Russland zu sagen, dass das, was mit wirtschaftlichem Druck versucht worden ist, genauso wenig tolerierbar ist wie die Kreativität, mit der Russland hinsichtlich der Zollformalitäten und der Gesundheitsvorschriften für den Warenimport nach Russland agiert.
Es ist notwendig, hier zu realisieren: Die Welt in der Ukraine ist nicht schwarz-weiß. Es ist eine schillernde Welt. Die Opposition ist geeint hinsichtlich ihrer Forderung nach Neuwahlen, nach Abdankung des Präsidenten und nach Freilassung der Verhafteten, aber nicht hinsichtlich der Perspektive einer guten Zukunft in der Ukraine. So ähnlich sieht es bei den Oligarchen aus, die ebenfalls unterschiedliche Interessen haben. So ähnlich sieht es auch in der Gesellschaft aus.
Deswegen glaube ich, dass auch die Europäische Union sich fragen muss: Haben wir alles richtig gemacht in der Phase der Assoziierungsverhandlungen? Ist nicht leichtfertig übersehen worden, welche ökonomischen und mentalen Verbindungen zu Russland bestehen, wenn man weiß, dass die Geburtsstunde Russlands im Kiew des 8. Jahrhunderts liegt?
Das alles zu berücksichtigen wäre wichtig gewesen. Genauso hätte man sich die Fragen stellen müssen: Welche finanziellen Herausforderungen kommen auf uns zu und wie können wir sie gemeinsam schultern? Das bringt mich, wenn ich den Blick nach vorne richte, zu der Frage: Sind nicht Europa und Russland gemeinsam gefordert, eine gute Perspektive für die Ukraine in guter Kooperation zu erarbeiten und zu gestalten, wenn es jetzt zu einer friedlichen und gewaltfreien Lösung gekommen ist? Wir müssen wegkommen von der Schaukel des Entweder-Oder, mit der Janukowitsch in den letzten Jahren gespielt hat. Es geht darum, sich Gedanken darüber zu machen, ob an dieser Stelle nicht mehr Kooperation entstehen kann. Europa und Russland sollten mit der Ukraine im wirtschaftlichen Bereich eigentlich große gemeinsame Interessen haben. Es geht darum, der Ukraine dabei zu helfen, eine gute wirtschaftliche Perspektive zu finden: im Energiesektor, bei der Produktion von Stahl und Eisen, aber auch bei der Kooperation im menschenrechtlichen und im zivilgesellschaftlichen Bereich. Es geht darum, dies gemeinsam zu organisieren und die großen ökonomischen Chancen zu realisieren. Es geht darum, zu schauen, wie man, wenn auf der einen Seite eine Europäische Union steht, die sich wieder stabilisieren muss, und auf der anderen Seite eine eurasische Union im Entstehen ist, gemeinsam Verträge machen kann.
Wir reden heute über ein transatlantisches Freihandelsabkommen. Wir reden an anderer Stelle darüber, eine Freihandelszone zu schaffen, die von San Francisco bis Wladiwostok reicht. Ich denke, was vor der eigenen Haustür liegt, sollte Vorrang haben. Das ist die gemeinsame Aufgabe, die sich uns allen heute stellt: zu helfen in unserem gemeinsamen Haus Europa, und zwar gewaltfrei, lösungsorientiert und kompromissbereit.
Herzlichen Dank.