Beim Zukunftskongress der SPD-Bundestagsfrakion sprach der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel. Bei der zweitägigen Veranstaltung diskutierte die Fraktion Zukunftsvisionen in verschiedenen Panels. Vor rund 700 Zuhörern sprach Gabriel unter anderem über die Zukunft Europas, die Finanzkrise und den bevorstehenden Bürgerdialog der SPD.
Es gilt das gesprochene Wort:
Anrede,
Zunächst einmal möchte ich Frank-Walter Steinmeier persönlich dafür danken, dass er die Arbeiten für diese Zukunftsbestimmung der SPD-Bundestagsfraktion vor über eineinhalb Jahren initiiert hat.
Das, was Sie und wir an engagierten und lebendigen Diskussion gestern und heute erlebt haben, zeigt, dass sich die Arbeit, der Weg und das Ergebnis mehr als sehen lassen können und sich sehr gelohnt haben.
Nochmals herzlichen Dank an alle Beteiligten, an die Kolleginnen und Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion, an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, vor allem aber an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer außerhalb der SPD-Fraktion, an die anwesenden Gäste,die zahlreichen Wissenschaftler, Sachverständigen und Experten.
Und besonders danke ich den Bürgerinnen und Bürgern, die das Gespräch mit der Fraktion aktiv geführt und unsere Arbeit und damit diesen Zukunftskongress erst möglich gemacht haben.
Wir haben gestern und heute ausführlich und intensiv über Zukunft geredet, über die Zukunft unseres Landes und über die Zukunftserwartungen von Millionen Bürgerinnen und Bürgern an Politik.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat programmatische Positionen markiert und konkrete Antworten gegeben.
Alle Themen, über die wir geredet haben
- Arbeit
- Bildung
- Integration
- demographischer Wandel
- Gleichberechtigung
- Infrastruktur
- Europa oder
- Haushalt und Finanzen
werden einzeln und für sich genommen auch an anderen Stellen und bei anderen Parteien diskutiert.
Wir Sozialdemokraten aber wollen alle diese Themen nicht nur für sich genommen, isoliert und schon gar nicht technisch behandeln,
nicht nur danach fragen, welches Gesetz, welche Vorschrift wir ändern müssen und wie viel Geld das kostet.
Das muss man alles auch tun. Aber eigentlich geht es bei all dem noch um etwas anderes:
Es geht vor allem darum, in Deutschland und Europa wieder öffentlich darüber zu verhandeln, wie wir morgen zusammen leben WOLLEN.
Nach welchen Grundsätzen, nach welchen Ideen, Wünschen und Werten.
Natürlich ist dabei die Summe alles Wünschbaren am Ende nicht bezahlbar. Deshalb geht es auch um die Frage: was ist uns besonders wichtig? Was wollen wir auf keinen Fall aufgeben oder vernachlässigt sehen.
Aber wieder darüber öffentlich zu reden, wie wir uns das Zusammenleben der Menschen im eigenen Land und auf unserem Kontinent vorstellen statt sich nur immer damit zu befassen, was wir alles hinnehmen
müssen, ist der eigentliche emanzipatorischen Kern von Politik. Und den müssen wir wieder entdecken.
Die letzten Jahrzehnte sind durch etwas ganz anderes geprägt worden und werden es immer noch: Meist haben uns die Ökonomen und selbst ernannte Welterklärter nämlich gesagt, wie wir angeblich leben MÜSSEN.
Und wir als Politikerinnen und Politiker haben es oft genug akzeptiert und wiederum unserem Bürgerinnen und Bürgern versucht zu erklären, dass die Welt sich nun mal verändert habe und man nun so oder so leben müsse.
Die Globalisierung war dabei immer die Ausrede, um die angeblichen Alternativlosigkeiten als "WIR MÜSSEN" hinzunehmen. So als sei die Globalisierung und Europäisierung so ähnlich wie das Wetter von morgen und durch Menschenhand nicht beeinflußbar.
Jahrelang mussten angeblich die Steuern für die Besserverdienenden gesenkt und die Vermögenssteuer abgeschafft werden, das angeblich "scheue Reh" Kapital ins Ausland flüchte.
Leistung sollte sich endlich wieder lohnen, allerdings meinten die, die diesen Spruch wie eine Monstranz vor sich her trugen, meistens sich selbst und nicht die Millionen fleißiger Menschen in Deutschland, die in Unternehmen, Krankenhäusern, Polizei oder im Handwerk die Werte schaffen
Obwohl es doch gerade diese fleißigen Eigentümerunternehmer und Arbeitnehmer sind, die die eigentlichen Leistungsträger unserer Gesellschaft sind, und nicht die selbsternannten Eliten, über die Peer Steinbrück vorhin zu Recht gesprochen hat.
Und angeblich MUSSTEN wir hinnehmen, dass der Einstieg ins Berufsleben für junge Menschen nach guter Ausbildung oder gutem Studium keine Sicherheit des Arbeitsplatzes brachte, sondern unbezahlte Praktika und schlecht bezahlte Leih- und Zeitarbeit.
Die gleichen jungen Menschen übrigens, denen wir sonst in Sonntagsreden erklären, sie mögen doch bitte Familien mit Kindern gründen und was für die Rente zurück legen. Von was denn eigentlich, wenn nicht sicher ist, wovon man morgen all das bezahlen soll?
Ich könnte das alles fortsetzen
- von der fehlenden Gleichberechtigung von Frauen
- über die mangelnde Pflege oder die zugeringe Rente, wenn man alt ist,
- und die Zweiklassenmedizin, bei der Facharzt- und Spezialistentermine weit schneller zu bekommen sind, wenn man privat und nicht gesetzlich versichert ist.
Mit all dem sollten wir uns abfinden. Die Globalisierung führe nun mal zum immer härter werdenden Wettbewerb und da müsse man schon auf manches verzichten.
Freilich: nur einige. Oder besser: Nur die meisten. Die Prediger dieser Ideologie selbst griffen kräftig zu.
Das gleiche Spiel läuft übrigens heute in vielen Teilen Europas ab.
Während den meisten Menschen im Süden Europas Verzicht gepredigt wird, dürfen andere durchaus frei entscheiden, wie sie leben wollen.
Und müssen sich weder durch Recht und Gesetz oder gar die Not ihrer Landsleute berührt fühlen:
Hunderte von Milliarden Euro werden am Finanzamt vorbei in scheinbar sichere Länder gebracht. Und die europäischen Staats- und Regierungschefs schauen zu oder profitieren in ihren Ländern sogar noch davon.
Derart politische Beihilfe zur Steuerhinterziehung soll jetzt noch vertraglich zwischen Herrn Schäuble und der Schweiz eine feste Grundlage verschafft werden. Weil wir eben angeblich so leben müssen.
Die SPD will sich mit diesem angeblichen alternativlosen Imperativ
für unser Zusammenleben, für unser Morgen, für Deutschland 2020 nicht länger abfinden.
Wir wollen zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland, aber auch mit den Bürgerinnen und Bürgern in Europa wieder darüber reden, wie wir leben WOLLEN.
Wir wollen wieder über Alternativen entscheiden und uns nicht von angeblichen Alternativlosigkeiten das Denken und Handeln verbieten lassen.
Wie wollen wieder selbst entscheiden, wie unsere Kinder aufwachsen.
Wir wollen wieder selbst entscheiden, wie wir arbeiten und leben: Frauen und Männer, Junge und Alte, Gesunde und Kranke, Neu- und Altdeutsche, Behinderte und Nichtbehinderte, Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Wir wollen wieder selbst entscheiden, wie unser Land und wie Europa 2020 aussehen soll.
Und vor allem wollen wir uns dabei nicht durch anonyme Finanzmärkte erpressen lassen.
Peer Steinbrück hat es vorhin bereits gesagt:
Wir wollen nicht die marktkonforme Demokratie, wie Frau Merkel das gesagt hat, sondern einen demokratiekonformen Markt.
Die Wiedereroberung demokratischer Gestaltungsfähigkeit - das ist unser eigentliches Ziel.
Denn der Verlust dieser Gestaltungsfähigkeit, die nun schon mehr als 20 Jahre anhaltende Debatte um die angeblichen Alternativlosigkeiten und das ausschließliche Reden darüber, wie wir angeblich leben MÜSSEN, hat die Politik längst ungeheuer weit von den Menschen in unserem Land aber auch in ganz Europa entfernt.
Sie zurück zu gewinnen, wird lange dauern. Das ist nicht durch ein paar Kongresse oder Willensbekundungen gelingen.
Sondern nur durch tägliche und oft auch anstrengende Begegnung, Gespräch und Zuhören.
Deshalb ist dieser Zukunftskongress der SPD-Bundestagsfraktion auch ein so guter Auftakt. Hier sind viele zu Wort gekommen, die sonst nicht in der SPD zu hören sind.
Und das muss Weitergehen. Bevor wir im Frühsommer des kommenden Jahres über unseren Vorschlag für ein Regierungsprogramm 2013 endgültig entscheiden, haben wir jetzt erst einmal die Aufgabe Zuzuhören.
Am übernächsten Montag, dem 24. September, startet deshalb die SPD bundesweit ihren Bürger-Dialog zum Regierungsprogramm 2013.
Im Internet, in Bürgerkonferenzen vor Ort und ganz traditionell per Post bitten wir die Menschen in unserem Land um ihre Meinung.
Übrigens mit einer ganz einfachen Frage: Was soll besser werden in unserem Land?
Weit mehr als eine Million Karten dieser Art sind schon unterwegs in Deutschland in unseren Ortsvereinen, Arbeitsgemeinschaften und Kreisverbänden.
Ende des Jahres werden sie gesichtet und im Frühjahr ausgewertet und auf Bürgerkonferenzen diskutiert.
Am Ende steht ein SPD-Bundesparteitag neuen Typs, auf dem nicht nur die SPD-Delegierten über das Regierungsprogramm 2013 diskutieren, sondern auch viele von denen, die sich an diesem Bürgerdialog beteiligt haben.
Um nicht missverstanden zu werden:
am Ende steht kein Wunschkatalog. Unser Versprechen ist nicht: wir machen, was ihr uns schreibt.
Sondern: wir reden mit Euch darüber, denken darüber nach und jede und jeder, der mitmacht, bekommt eine Antwort.
Wir wollen wieder die normalen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen zum Ausgangspunkt der Politik zu machen.
Und diese Lebens- und Arbeitsbedingungen der normalen Menschen, der Pflegekraft, der Krankschwester, des Lehrers, des Industriefacharbeiters, der Handwerkerin oder des Familienunternehmers ist anders als das der Manager in Vorstandsetagen von Banken oder an Finanzmärkten.
Und es ist übrigens auch anders, als der Lebensalltag derjenigen, die trotz Millionenvermögen versuchen ihr Einkommen am Finanzamt vorbei ins Ausland zu bringen.
Und wenn sich einige in der Medienlandschaft zu dieser Leute Sprachrohr machen oder zum Sprachrohr der Parteien, die weiterhin die Alternativlosigkeit predigen, sollten wir nicht erschreckt zucken, sondern selbstbewusst sagen:
"Ja, Ihr regt Euch zu Recht auf. Denn Euch meinen wir.
Euren Egoismus und Eure zynische Gleichgültigkeit gegenüber den Menschen in diesem Land ist nicht unsere Sache.
Viel zu lange habt Ihr das politische Meinungsklima in Deutschland bestimmt.
Ja, jetzt sollen mal wieder die Vielen das Wort haben und nicht immer nur die Wenigen.
Und Ja, wir sind Eure politischen Gegner. Das habt Ihr richtig erkannt."
Darüber zu reden, wie die Vielen leben wollen statt von den Wenigen vorgeschrieben zu bekommen, wie wir leben müssen: das ist die Aufgabe der SPD seit 150 Jahren.
Und wir stehen dabei auf einem festen Fundament. Frank-Walter Steinmeier hat es heute morgen gesagt: Im Zentrum steht bei uns eine gerechte Gesellschaft.
Gerechtigkeit heißt: die Wohlstandskluft zwischen den Reichen und den Armen zu verringern und nicht wie aktuell zu verbreitern- weder im Arbeitsalltag noch in der Rente.
Gerechtigkeit heißt: mehr Bildung und die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass auch der Nachwuchs aus bildungsfernen Schichten an der Bildungsexpansion teilhat.
Und Gerechtigkeit bedeutet: die Europäische Union nicht zu einem soziales Deregulierungsprojektverkommen zu lassen, das nur einen Binnenmarkt und eine Währung kennt und sonst nur gnadenlosenWettbewerb, sondern unser Europäisches Projekt will wieder Voraussetzung für den Aufbau des europäischen Wohlfahrtsstaates schaffen.
Dafür aber müssen wir endlich die Finanzmärkte bändigen, damit sich die Krisen nicht ständig wiederholen und dafür sorgen, dass die Verursacher dieser Krisen auch die Kosten tragen.
Das steht ganz oben an als Ziel für die Wahlauseinandersetzung zur Bundestagswahl:
Anders als die anderen haben wir keine Angst.
Gemeinsam wollen wir Sozialdemokraten in Deutschland und Europa verhindern, dass sich die Krisen der entfesselten Finanzmärkte wiederholen. Und deshalb wollen wir sie bändigen!
Und die Zeche der Krise müssen endlich die Zahl, die sie verursacht haben.
Wir beteiligen alle, die mitwirken wollen an der Zukunft unseres Landes und an der Zukunft Europas.
Unser Ziel ist ein Deutschland, in dem die Freiheit des Einzelnen, aus seinem Leben etwas zu machen, wieder verbunden ist mit der Verantwortung füreinander.
Unsere Themen sind die Bildung, der Kampf gegen Altersarmut und für soziale Sicherheit - vor allem aber immer wieder der Kampf um ein demokratisches und soziales Europa, in dem die Menschen herrschen und nicht die Finanzmärkte und Bankvorstände.
Unser Gegner ist die "marktkonforme Demokratie" und die Unterordnung der Menschen unter die Finanzmärkte.
Und unsere Verbündeten sind alle, denen der Kampf um Bildung, Gleichberechtigung und die Verbindung von wirtschaftlichem Erfolg mit sozialer Sicherheit wichtiger sind als die Ideologie der Freiheit der Finanzmärkte.
Die Debatten auf diesem Zukunftskongress haben mehr als deutlich gemacht:
In Deutschland ist etwas aus dem Lot geraten. Fehlsteuerung und Fehlanreize so wie die Unfähigkeit dieser Bundesregierung haben Spaltungstendenzen verstärkt, die wiederum ein Auseinanderdriften und Auseinanderfallen von Staat und Gesellschaft begünstigt und befördert haben.
Die Folge: Wir erleben eine gesellschaftliche Polarisierung in Deutschland wie nie zuvor. Wir erleben neue und alte soziale und kulturelle Spaltungen, die wir zwischenzeitlich überwunden glaubten.
Und wir erleben, dass auch und gerade 150 Jahren nach unserer Gründung die SPD als bestimmende politische Kraft in der "politischen Mitte" und links davon neu herausgefordert ist.
Das ist unsere zentrale Botschaft für die nächste Bundestagwahl: Wir wollen unser Land wieder einneues Gleichgewicht bringen
Deutschland braucht ein neues politisches Gleichgewicht zwischen Demokratie und Markt.
Deutschland braucht ein neues ökonomisches Gleichgewicht zwischen Politik und Wirtschaft.
Deutschland braucht ein neues soziales Gleichgewicht zwischen oben und unten.
Und Deutschland braucht ein neues gesellschaftliches Gleichgewicht zwischen dem Gemeinwesen und dem Einzelnen oder zwischen dem WIR und dem ICH!
Wer dabei mithelfen will, ist herzlich eingeladen.
Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit.