Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

Das ist einer der seltenen Fälle, in denen wir über eine Anregung des Parlaments reden, die die Regierung zwischen der ersten und der zweiten Lesung des An-trags direkt schon in die Tat umsetzt.

Wir finden es erst einmal gut, dass das jetzt Fahrt aufgenommen hat. Wir wollen als Parlament mit diesem Antrag aber auch deutlich machen: Wir wol-len das Thema jetzt nicht für zehn Jahre abgeben, sondern es aktiv mitgestalten. Das zeigt auch die engagierte Debatte hier. Gemeinsam – Parlament und Regierung – schaffen wir das.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-ten der CDU/CSU)

Es ist aber auch wichtig, zum Schluss der Debatte einen Blick auf die Frage zu werfen: Was wollen wir eigentlich nach den zehn Jahren der Alphabetisie-rungsdekade erreicht haben? Ich möchte gerne vier Anmerkungen dazu machen.

Erstens. Wir müssen besser machen, was in der Vergangenheit nicht geklappt hat. Die Vereinten Nationen haben 2003 bis 2012 zur Weltalphabeti-sierungsdekade aufgerufen mit dem Ziel, die Zahl der betroffenen Menschen zu halbieren. Das Ergebnis war, dass weltweit die Zahl der betroffenen Men-schen von 20 auf 17 Prozent gesunken ist. Das war gut, aber nicht ausreichend.

Wir müssen aus dieser Weltalphabetisierungsde-kade für unsere nationale Dekade lernen. Wir brau-chen realistische Ziele. Wir brauchen geeignete In-strumente. Wir brauchen Personen, die vorangehen. Deswegen war es gut, dass die Ministerin gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz den Impuls gesetzt hat. Und wir brauchen Geld. Ich will daran erinnern, dass Tony Blair in Großbritannien 3,6 Milliarden Euro für die Skills-for-Life-Strategie mobilisiert hat. Das kann man mit unserer Summe nicht vergleichen, weil wir hier nur über Bundesgeld reden; die Länder werden noch ein Vielfaches drauflegen. An dieser Stelle wollen wir jedoch auch sagen: Die 180 Millionen Euro, die die Ministerin in den Raum gestellt hat, finden wir gut, aber das kann nur eine Untergrenze sein. Wir helfen gern mit, da noch mehr Geld zu mobilisieren.

(Beifall bei der SPD)

Zweite Anmerkung. So gut es ist, dass Bund und Länder jetzt vorangegangen sind: Allein werden sie es nicht schaffen. Wir müssen in den nächsten zehn Jahren ein tragfähiges Alpha-Netzwerk aufbauen. Wir brauchen die Kompetenz derjenigen, die sich teilweise schon seit Jahrzehnten in der Alphabetisie-rungs- und Grundbildungsarbeit engagieren, sei es die Volkshochschule in meiner Heimatstadt, die schon seit den 80er-Jahren Alphabetisierungskurse anbietet, oder seien es die großen Verbände: der Deutsche Volkshochschul-Verband allen voran, die Stiftung Lesen ist schon genannt worden, der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung, um nur drei Beispiele zu nennen. Das sind diejenigen, die die Kurse durchführen. Sie beraten am Alpha-Telefon, stellen die Unterrichtsmaterialien zusammen und qualifizieren die Kursleiter. Die Einbeziehung der Akteure der Alphabetisierungs- und Grundbildungs-arbeit in die Dekade ist daher auch eine Frage der Wertschätzung der Arbeit, die dort teilweise schon seit Jahrzehnten geleistet wird.

(Beifall bei der SPD)

Ich habe eine Bitte: Lassen Sie uns auch die loka-len Netzwerke, die sich in letzter Zeit gebildet haben, im Blick behalten. Die regionalen Grundbildungszen-tren sind sicherlich ein guter Ansatz; das ist hier schon thematisiert worden.

Vor Ort, in den Städten, können wir weitere Ak-teure an den Tisch holen, die wichtig sind: die Schu-len, die Jobcenter, die lokale Wirtschaft, die Stadt-verwaltung und viele andere mehr. Direkte Hilfe vor Ort zu organisieren, das könnte auch ein Erfolgsre-zept dieser Dekade sein. Deswegen lassen Sie uns auch die Vor-Ort-Ebene im Blick behalten.
Dritte Anmerkung. Was wollen wir in zehn Jahren erreicht haben? Wir wollen in zehn Jahren mehr über Analphabetismus und seine Ursachen wissen. Viele stehen immer noch ratlos vor dem Phänomen und fragen sich: Wie ist das eigentlich möglich – 7,5 Millionen betroffene Menschen in Deutschland trotz Schulpflicht, trotz Erwerbstätigkeit, trotz Mut-tersprache Deutsch? Und wie können sie das eigent-lich in unserem schriftgeprägten Alltag verheimli-chen?

Die Wahrheit ist: Wir wissen etwas über das Aus-maß des funktionalen Analphabetismus, aber wir wissen herzlich wenig über die Ursachen und die Wechselwirkungen des Analphabetismus. Deswegen ist es gut, dass die „leo.“-Studie – sie ist hier mehrfach genannt worden – fortgesetzt wird. Wir brauchen in diesem Bereich kontinuierliche und gut ausgestattete Forschung. Die „leo.“-Studie ist ein Teil davon. Wir wollen, dass da in den nächsten Jahren noch mehr passiert.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

In dem Zusammenhang möchte ich neben der Forschung und den anderen Akteuren auch die Menschen benennen, die sich in den letzten Jahren getraut haben, als Betroffene an die Öffentlichkeit zu gehen und zu zeigen, wie sie gelebt haben. Wir haben von denjenigen, die sich getraut haben, als Bot-schafter und Lernende an die Öffentlichkeit zu ge-hen, viel gelernt. Herzlichen Dank dafür, und Respekt vor dem Mut!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-ten der CDU/CSU und des Abg. Kai Geh-ring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Vierte Anmerkung. Wir wollen in diesen zehn Jah-ren erreichen, dass kein Analphabet mehr am Rande der Gesellschaft steht; wir wollen, dass ihm oder ihr geholfen wird. Wir wollen Menschen ermutigen, Le-sen und Schreiben zu lernen. Das ist oft ein langwie-riger Prozess. Dabei reicht es nicht aus, einen Kurs zu besuchen. Es braucht Anreize, sich der Herausforde-rung zu stellen und zu erkennen, dass man mit dem Problem des Analphabetismus nicht allein ist.

Aber es braucht auch – Frau Kollegin Schieder hat darauf hingewiesen – einen Anreiz, zu erkennen, wo ein Mitmensch von Analphabetismus betroffen ist. Wir brauchen mehr ausgestreckte Hände: in der Fa-milie, im Betrieb, in den Verwaltungen oder anders-wo. Dabei sind die Öffentlichkeitskampagnen, die dort gestartet werden, besonders wichtig. Es geht nicht um eine Werbekampagne. Die Kampagne soll diejenigen erreichen, die einen Kurs besuchen wollen, wie auch diejenigen, die erkennen, dass jemand ihre Hilfe braucht. Deswegen ist auch das ein ganz be-sonders wichtiger Teil.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Wir haben viele gute Ziele in unseren Antrag aufgenommen. Wir werden die Dekade als Parlament begleiten. Ich bin zuversichtlich, dass wir einen wich-tigen Fortschritt dabei erzielen, dass wir die Menschen unterstützen, Lesen und Schreiben zu lernen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)