In seiner Rede auf der Zukunftskonferenz der SPD-Fraktion erteilte der Fraktionschef einer Großen Koalition mit der SPD als Juniorpartner eine klare Absage: "Lasst uns dafür sorgen, dass aus einer gesellschaftlichen Mehrheit auch eine politische Mehrheit wird!"
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Freunde, Gäste und Ehrengäste,
Genossinnen und Genossen!
Kommt´s Ihnen eigentlich auch so vor: Immer mehr in den letzten Monaten kommt es mir vor, als lebten deutsche Politik und deutsche Öffentlichkeit in Parallelwelten.
Seit mehr als zwei Jahren beherrscht die europäische Krise die politische Agenda, besetzt die Titelseiten, formuliert die Headlines. Jede noch so kleine Wendung wird akribisch notiert. Randbemerkungen der Akteure geheimnisvoll zum Orakel umgedeutet. Europäische Räte werden als säkulares Hochamt zelebriert.
Nicht dass wir uns missverstehen: die europäische Krise und die Frage, ob wir Auswege daraus finden, ist existentiell! Vom Gelingen Europas hängt unsere Zukunft hier entscheidend ab!
Aber wahr ist genauso: Hinter diesem Vorhang von europäischer Nabelschau und täglichem Krisenmanagement verschwindet die Welt – die Welt außerhalb Europas und selbst die kleine Welt in Deutschlands Grenzen.
Dramatische Veränderungen in der Welt, die die Architektur der internationalen Beziehungen gehörig durchschütteln. Amerika rückt westwärts, Russland rückt ostwärts. In Wladiwostok präsentieren sich beide vor zwei Wochen als pazifische Macht und kommen ins Gedränge mit dem großen ostasiatischen Hegemon China.
Was vor Jahren noch als grundstürzend für unsere Außenpolitik beschrieben worden wäre, findet sich nicht wieder in unserer politischen Diskussion. Wir erlauben uns wegzusehen, wenn sich der Nahe Osten immer mehr zu einem riesigen Pulverfass entwickelt, das täglich explodieren kann. Und kümmern wir uns wirklich um die südliche Nachbarschaft Europas, deren politischer Aufbruch vor Jahresfrist umjubelt wurde? Eine Nachbar-schaft, die jetzt droht, in der Mühsal der Ebene zu stranden?
Alles das, was dort gelingt, wird uns berühren, was misslingt, allerdings auch. Das wissen wir. Aber prägt auch nur eines der Themen unsere politische Tagesordnung? Nein! Wir halten Abstand und warten ab.
Innenpolitisch liegt unser eigenes Land in Agonie!
Aber – mit Verlaub – nicht nur da! Innenpolitisch liegt unser eigenes Land in Agonie! Hinter dem Vorhang des europäischen Krisenalltags hierzulande: Bewegungslosigkeit, Stillstand. Der tägliche Schlachtenlärm der Akteure aus Kabinett und Koalition verdeckt doch nur: Da geht in Wahrheit nichts, erst recht nichts vorwärts!
Auch im dritten Jahr ist aus dieser Koalition keine Regierung geworden. Streit, wohin man schaut! Inszenierung statt Gestaltung! Jeden Monat findet ein neuer Gipfel statt: Bildungsgipfel, Autogipfel, Energiegipfel, Demogra-phiegipfel – viele schöne Bilder, Ergebnis gleich Null.
Ich weiß nicht, wer von Ihnen die Haushaltsdebatten in dieser Woche verfolgt hat. Über lange Strecken hatte ich den Eindruck, ich sei im falschen Film. Diese Regierung redet unser Land ins Koma mit der täglichen Versicherung, uns gehe es ja gut. Das Wichtigste aber verschweigen sie: Wir leben von geborgter Zeit! Und die rinnt uns durch die Hände!
Frau Merkel lebt von den Vorräten, die andere angelegt haben, verfrühstückt den Vorsprung, den wir uns vor 10 Jahren mühsam erarbeitet haben. Sie erntet auf Feldern, auf denen sie weder gesät noch gepflanzt hat. Das ist, wie Franz Müntefering so treffend gesagt hat, eine „Politik ohne Morgen“. Und deshalb sollten wir alle gemeinsam auch dafür sorgen, dass es spätestens ab dem nächsten September für diese Regierung auch kein Morgen mehr gibt!
Meine Damen und Herren,
Im Januar 2011 haben wir als SPD-Bundestagsfraktion gesagt: Lasst uns dieser regierungsamtlich organisierten Politikverweigerung einen Gegenentwurf entgegensetzen! Einen Gegenentwurf mit Hand und Fuß. Lasst uns in acht ausgewählten Bereichen Schneisen nach vorn schlagen, Konzepte erarbeiten für das nächste Jahrzehnt.
Hier auf diesem Kongress präsentieren wir Ihnen erste Ergebnisse. Ich danke meiner Fraktion, ich danke allen, die uns geholfen haben, für ihr, für Euer Engagement! Wir können stolz sein auf unsere Arbeit. Und wir sollten das auch zeigen - mit einem kräftigen Beifall, der allen gilt, die an diesem Projekt mitgearbeitet haben.
Klar ist: Das ist kein Regierungsprogramm. Aber es sollen Bausteine sein, die neben konkreten Vorschlägen vor allem von einer gemeinsamen Haltung zeugen: Diese SPD und diese SPD-Fraktion wollen ab 2013 nicht nur wieder in der Regierung sein. Wir wollen dieses Land gestalten. Nicht als Juniorpartner in einer großen Koalition! Wir wollen die Regierung führen – und zwar von vorn!
Aus einer gesellschaftlichen Mehrheit muss eine politische werden
Deshalb spielen wir auf Sieg, nicht auf Platz, liebe Genossinnen und Genossen!
Liebe Freunde,
Wir haben ein klares Bild von dem Deutschland, in dem wir leben wollen! Das unterscheidet uns von dieser Koalition, die sich im täglichen Überlebenskampf zerreibt, aber ohne Ziel und ohne Weg ist!
Wir haben eine Vision von einem Land, in dem wir sozialen Zusammenhalt bewahren, in dem die Menschen unterschiedlicher Herkunft einander nicht gleichgültig werden. Einem Land, in dem auch Menschen mit Behinderungen ein würdiges und erfülltes Leben führen können. Einem Land, in dem Frauen und Männer gleiche Chancen haben. Einem Land, in dem starke Schultern mehr tragen als schwache. Einem Land, in dem Offenheit und Toleranz gelebte Praxis sind. Einem Land mit einer starken industriellen Basis, einem gesunden Mittelstand und, vor allem, einer dienenden Finanzwirtschaft. Einem Land, in dem Menschen von dem leben können, was sie mit ihrer Hände und Köpfe Arbeit verdient haben. Egal, ob sie in einem Unternehmen arbeiten oder in der Kreativwirtschaft, als Einzelunterneh-mer oder Künstler tätig sind.
Das ist unser Land. Und das ist das Land, in dem die Mehrheit der Deutschen leben will! Davon bin ich überzeugt!
Und deshalb, liebe Freunde, sage ich Euch: Lasst Euch von täglich wechselnden Umfragen nicht irre machen! Wir haben die gesellschaftlichen Mehrheiten auf unserer Seite. Lasst uns jetzt dafür sorgen, dass aus einer gesellschaftlichen Mehrheit auch eine politische Mehrheit wird! Ich bin sicher: In den 370 Tagen, die uns bleiben, wird das gelingen!
Ich sehe hier im Saal die Vertreter der Gewerkschaften. Auch die Wirtschaft ist zahlreich vertreten. Die Enttäuschung über das Versagen dieser Regierung ist überall, am stärksten bei denjenigen, die Schwarz-Gelb vor drei Jahren für eine messianische Erlösung gehalten haben. Jedenfalls: Das Interesse an uns und unseren Programmvorstellungen wächst. Lasst uns froh sein, dass andere wieder neugierig auf uns sind. Lassen wir uns nicht einschließen in ewige Gewissheiten, sondern die Türen ganz weit aufmachen!
Lasst uns auf andere zugehen, auch auf die, die nicht immer bei uns sind und die, die uns verloren gegangen sind. Dieser Zukunftskongress ist ein Angebot: Wir sind offen für neue Bündnisse und für neue Ideen. Jeder soll willkommen sein! Auch das ist ein Signal dieser Konferenz!
Meine Damen und Herren, liebe Genossinnen und Genossen,
und wer könnte besser als wir beurteilen, wie sehr die Dinge im Fluss sind und wie viel sich verändert! Am Anfang des letzten Jahrzehntes war unser größtes Problem die Massenarbeitslosigkeit – die Geißel in allen Familien, die nicht nur soziale Not mit sich führte, die diejenigen ohne Würde lässt, die mit Stolz und Verantwortung für ihre Kinder gesorgt haben. Hohe Massenarbeitslosigkeit, die Wachstum gedrückt hätte und deren Finanzierung uns alles zerschlagen hätte, was uns wertvoll ist an sozialer Sicherung, bei Gesundheit, bei Rente.
Die Agenda 2010 war die Antwort darauf, natürlich nicht fehlerfrei. Deshalb haben wir nicht gezögert, einiges zu korrigieren. Aber heute haben wir einen Rekordbeschäfti-gungsstand, volle Sozialkassen und eine Arbeitslosigkeit von gut 6 1/2%. Das war ein mühsamer und schmerzhafter Weg für uns, ich weiß das und habe nichts vergessen. Aber, liebe Genossinnen und Genossen, er gibt uns auch Glaubwürdigkeit. Gerade weil dieser Weg nicht leicht war, wir aber gestanden haben!
Rot-Grün ist die Koalition für die Zukunft
Nicht alles war gut in unseren Regierungszeiten, auch wir waren nicht fehlerfrei und haben geirrt. Aber – Mann! – Ende der 90er Jahre war dieses Land am Ende, der „kranke Mann Europas“, Schlusslicht bei allen Zukunftsindikatoren.
Meinetwegen mit Fehlern, aber wir haben dieses Land völlig neu aufgestellt! Nicht das Paradies geschaffen und nicht alle Ungerechtigkeiten beseitigt, leider sind auch neue hinzugekommen. Aber doch wirklich ein Land, in dem es sich leben lässt und auf das andere wieder mit Respekt schauen.
Das, liebe Genossinnen und Genossen, das war Euer Werk! Nicht Schwarz-Gelb! Wir haben das durchgekämpft, den großen Teil des Weges gemeinsam mit den Grünen. Das ist die Koalition für die Zukunft! Die anderen sind dabei, diese Zukunft zu verraten!
Aber Politik, meine Damen und Herren, ist nie zu Ende. Das einmal Erreichte gewährt nur kurze Atempausen. Und die Geschwindigkeit der Veränderung auf die wir reagieren müssen nimmt von Jahr zu Jahr zu. Deshalb lasst uns aufhören, auf die Fragen des vergangenen Jahrzehnts Antworten zu suchen. Lasst uns die Fragen des kommenden Jahrzehnts identifizieren und mutig angehen!
Und wir werden ein völlig verändertes Koordinatensystem treffen: War die Arbeitslosigkeit im letzten Jahrzehnt das zentrale Hindernis für Wachstum in diesem Land, dann wird im nächsten Jahrzehnt das Gegenteil der Fall sein. Nicht Arbeitslosigkeit, sondern der Mangel an qualifizierter Arbeit, an Fachkräften, an Ingenieurinnen und Ingenieuren wird sich zur entscheidenden Bedrohung unserer wirtschaftlichen Zukunft entwickeln.
Die Zahlen sprechen eine dramatische Sprache: 41 Millionen Menschen sind heute in Deutschland in Beschäftigung. Daraus werden in knapp zehn Jahren 39 Millionen. In knapp 40 Jahren werden es überhaupt nur noch 36 Millionen im erwerbsfähigen Alter sein! Und das hat Folgen für die gesamte Gesellschaft. Der demographische Wandel – ich kann es nicht anders sagen – ist eine soziale Revolution! Eine, die auf Samtpfoten daherkommt. Und es gibt leider weltweit kein Politikmodell, bei dem wir Anleihe nehmen können oder an dem wir uns orientieren können.
Liebe Genossinnen und Genossen,
es ist gewaltig, was da auf uns zukommt! Und wenn demographischer Wandel die Gesellschaft nicht zerreißen soll, dann müssen wir Sozialdemokraten ihn gestalten. Wissend, dass die immer wieder notwendige Neujustierung des Verhältnisses von alt und jung, des Verhältnisses von der beitragszahlenden Generation zur leistungsbeziehenden Generation immer größere Sprengkraft entwickelt. Aber wenn nicht wir, wer soll das schultern? Wie müssen wir uns vorbereiten?
Nicht in Form von Demographiegipfeln, wie es jetzt – wie sollte es anders sein – die Bundesregierung plant. Sondern mit konkreten Vorschlägen und Politikangeboten für das nächste Jahrzehnt. Demographische Revolution, das heißt für uns erstens: Gleichstellung von Frauen in der Arbeitswelt. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Vor allem aber: Mehr Frauen in Führungspositionen, im Vorstand und im Aufsichtsrat. Und keine Prämie, die unsere Kinder von den Kitas fernhält – das ist genau der falsche Weg!
"Schools should be palaces"
Liebe Genossinnen und Genossen,
demographische Revolution, das heißt für uns zweitens: Deutschland war Einwanderungsland und muss es bleiben, wenn wir eine Zukunft haben wollen. Niemand weiß besser als wir: Wichtigster Integrationsfaktor ist die Arbeit. Deshalb machen wir konkrete Vorschläge für die Gestaltung der Zuwanderung und für eine bessere Integration der Zuwanderer in den Arbeitsmarkt. Aber was tun wir mit den Kindern der Zuwanderergeneration, in denen wir wunderbare Beispiele für Aufstieg und Erfolg sehen, in denen aber viel zu viele frühzeitig scheitern?
Damit kommen wir zu unserer dritten und entscheidenden Antwort auf die demographische Revolution: Bildung ist die Schlüsselfrage, an der sich unsere Zukunft entscheiden wird! Es ist gut, dass wir in der Wissenschaft besser geworden sind – übrigens auch unser Werk! Aber Bildung fängt in Kitas und Kindergarten und Schule an. Und sie kann nicht funktionieren in Schulen, in denen die Stunden ausfallen und der Putz von der Decke fällt!
„Schools should be palaces“, hat ein englischer Schulreformer gesagt. Und auch wenn ich weiß, wie lange es dauern wird, bis dieser Anspruch auch nur annähernd eingelöst ist, eins bringt dieser Satz schön auf den Punkt.
Entweder gelingt uns die Zukunft
- mit besseren Schulen,
- mit Schulen, in denen kein Kind zurückgelassen wird,
- und mit einer zweiten Chance für die, die die erste verpasst haben.
Oder wir verspielen sie! So einfach ist die Alternative. Aber auch so brutal.
Bei allen Lippenbekenntnissen, die auch auf diversen Bildungsgipfeln zu hören sind: Die Realität in unserem Land sieht traurig aus!
Erst vor wenige Tagen erst hat die OECD erneut eine deprimierende Studie veröffentlicht: Nur 6 Prozent der Studentinnen und Studenten in Deutschland kommen aus einer Familie mit niedrigem Bildungsniveau. Aufwärtsmobilität Fehlanzeige! 22 Prozent der Jugendlichen bleiben hinter dem Bildungsniveau ihrer Eltern zurück! Die Abwärtsmobilität hat zugenommen! Fast jedes vierte Kind rutscht ab! Das ist der alarmierende Befund, der doch keinem Sozialdemokraten Ruhe lassen darf!
Wir wollen, dass unsere Kitas und unsere Schulen Ort der Zukunft sind. Orte, wo jedes Kind spürt: Hier bist Du willkommen. Wir tun alles, damit Du eine gute Zukunft hast.
Und dazu werden wir nicht darum herumkommen, den Irrgarten der föderalen Schulpolitik zu lichten: 24 verschiedene Sprachtests für Kita-Kinder. 16 verschiedene Lehrpläne. Mehr als 100 verschiedene Typen von Sekundarschulen. Das ist nicht gelebter Föderalismus, das ist gelebte Kirchturmpolitik!
Konkret schlagen wir in unserem Papier vor:
- Ein neues Ganztagsschulprogramm, 8 Mrd. durch den Bund in den nächsten 4 Jahren.
- Einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz bis zum Jahr 2020 für Eltern, die wollen und Kinder, die das brauchen. Es ist ein Jammer, dass Kinder mit Potenzial, aber ohne Unterstützung von zu Hause jeden Mittag nach Hause geschickt werden, häufig in Umstände, die Schulerfolge eher gefährden als fördern.
- Mehr Investitionen in die Qualität von Ganztagsschulen. Ihr volles Potential entfaltet diese Schulform erst, wenn jede Schule zum Zentrum eines lebendigen Vereins-, Sport- und Kulturlebens wird. Dazu wollen wir jede Ganztagsschule mit zusätzlichen Budgets ausstatten, um lokale Vereine, Sport, Kunst und Kultur in die Schule zu holen.
- Das Ganze wird es aber nicht geben ohne eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Bund und Land. Deshalb fordern wir auch: Schluss mit dem Kooperationsverbot! Mehr Zusammenarbeit zwischen Ländern und Bund!
Keine Angst vor Debatten gegen uns
Natürlich kostet das Geld. Und wir haben ja verabredet: Nicht mehr versprechen als wir halten können. Deshalb haben wir andersherum angefangen: nicht erst den Wunschzettel schreiben, sondern ein Steuer- und Finanzkonzept, das wir vor einigen Monaten vorgestellt haben.
Zwei Lektionen haben wir aus den letzen beiden Finanzkrisen verstanden: Zu der ersten wird Peer gleich noch ganz viel sagen. Aber wenn uns die doppelte Krise an den Finanzmärkten eines gelehrt hat, dann dass wir zu große Abhängigkeiten eingegangen sind – auch wir selbst. Deshalb müssen wir runter von zu hoher Neuverschuldung, ausgeglichene Haushalte lohnen sich für unsere Klientel, an den Zinszahlungen verdienen andere.
Das wäre zu schaffen, käme nicht die zweite Lektion dazu, die wir gelernt haben: Die Zukunft gewinnen wir nur, wenn wir mehr Geld in Bildung investieren. Das ist der Wider-spruch, den wir aufzulösen haben: Weniger Spielraum durch Reduzierung der Neuverschuldung, aber gleichzeitig mehr Investitionen in Bildung.
Ich sage, wenn beides richtig ist, wenn wir darauf verzichten wollen, bunte Blumensträuße zu binden und wenn wir gleichzeitig Bildung zur obersten Priorität erklären, dann darf der Spitzensteuersatz in diesem Land kein Tabu sein.
Ich habe keine Angst vor der Debatte, die das Handelsblatt gestern massiv und verleumderisch gegen uns losgetreten hat. Wir waren nie diejenigen, die nur dann glücklich waren, wenn dieses Land die höchsten Steuern in Europa hatte. Wir haben Steuern gesenkt, wenn Spielräume dafür da waren, gerechter und wirkungsvoller als die Steuerstümperei der gegenwärtigen Regierung. Aber wir sind jetzt wieder an einem Wendepunkt wie vor 10 Jahren. Wenn wir jetzt nicht umschalten in der Bildungslandschaft, dann verspielen wir nicht nur die Zukunft unserer Kinder, auch die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes!
Lasst uns den Streit aufnehmen mit denjenigen, die sich aller Erfahrung zum Trotz jetzt wieder hinter Schwarz-Geld versammeln. Und das werden mehr werden im kommenden Jahr!
Aber lasst uns auch klar versprechen, dass die Mehreinnahmen bei den Steuern in den Ausbau unserer Schulen gehen – dann werden auch an dieser Stelle die gesellschaftlichen Mehrheiten auf unserer Seite sein! Ich weiß es aus vielen Gesprächen: wenn wir das durchhalten, dann werden auch die heute Besserverdienenden auf unserer Seite sein.
Meine Damen und Herren,
schon in einer Zeit, als das nicht so gern gehört wurde, haben wir Sozialdemokraten uns stets zur industriellen Wertschöpfung als Rückgrat unserer Volkswirtschaft bekannt. Übrigens: Wann lädt Frau Merkel eigentlich zum ersten Industriegipfel ein?
Noch immer ist die starke Industrie das Rückgrat unserer Volkswirtschaft, mit großen Playern, vor allem aber einem leistungsfähigen Mittelstand. Die weltweite Spitzenposition vieler deutscher Unternehmen hat mit der Innovationskraft dieser Unternehmen, ihren gut ausgebildeten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und sicher auch einem guten Management zu tun.
Die Frage ist, ob noch allen bewusst ist, dass sich Erfolg und Zukunftsfähigkeit auch bei uns auf der hoch entwickelten Infrastruktur gründen, die unser Land zu bieten hat.
Mit Sorge beobachte ich, wie die Akzeptanz dafür sinkt, dass ein Industrieland wie Deutschland auch Stromtrassen, Kraftwerke, Speicher, Verkehrswege, Bahnhöfe, Häfen und Flughäfen braucht. Wir nutzen sie täglich millionenfach, aber ihr Erhalt und ihr Ausbau sind nicht mehr selbstverständlich.
Demokratie und soziale Gerechtigkeit gehören zusammen
Und deshalb sagen wir: Wir brauchen eine neue Akzeptanz für Infrastruktur! Das bemühen darum nennen wir „Infrastrukturkonsens“, und wir wissen, dass das eher den Prozess beschreibt, ohne dass die Verständigung schon da wäre. Aber Sie haben ja gestern auf dem Podium gehört:
Dahinter stecken eine Vielzahl von konkreten Maßnahmen – von einem geänderten Planungs- und Beteiligungsrecht bis hin zu neuen Ansätzen für einen künftigen Verkehrswegeplan, der dem Realismus eine Chance gibt.
Meine Damen und Herren,
zum Schluss noch ein großes Thema, das mich mit großer Sorge erfüllt. In unserer Gesellschaft geht das Gefühl dafür verloren, was unser Land zusammenhält. Da wird für systemrelevant erklärt, was der kritischen öffentlichen Diskussion entzogen werden soll. Wirtschaftlicher Erfolg ist wichtig, wir brauchen auch leistungsfähige Banken. Aber das alles wird nichts nützen, wenn die soziale Balance in einem Land kaputt geht.
Ich hab’s am Mittwoch in der Haushaltsdebatte im Plenum gesagt: Demokratie und soziale Gerechtigkeit gehören zusammen. Und deshalb sage ich: Soziale Gerechtigkeit ist systemrelevant für Demokratie! Ohne das eine gerät das andere in Gefahr!
Ich kann mich nur wundern, wie blind die Bundesregierung auf diesem Auge ist. Wir haben in den letzten Jahren immer wieder gesagt: Wir können doch nicht Jahr für Jahr Milliarden in die Rettung von Banken stecken, und die kleinen Leute, die Steuerzahler auf den Kosten der Krise sitzen lassen!
Mit allen Mitteln haben wir deshalb versucht, bei der Besteuerung der Finanzmärkte endlich voranzukommen. Ich wundere mich bis heute, mit wie wenig Nachdruck die Bundesregierung bis heute diese am Ende auch von ihr akzeptierte Forderung verfolgt. Nicht nur, weil wir diese Einnahmen brauchen, nein, vor allem, weil das ein elementares Gerechtigkeitsthema ist! Und das müssen wir lösen!
Das hat auch Konsequenzen für den Arbeitsmarkt! Die Zahlen zeigen es eindeutig: Die Einkommensschere geht auseinander. Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die ihren Sinn hatte und erfolgreich war, hat leider auch zu viel zu viel Missbrauch und Lohndumping geführt. Das kann man nicht so lassen, da müssen wir und hier werden wir gegensteuern!
Unsere erste Antwort heißt Mindestlohn. Bundesweit einheitlich und verbindlich.
Aber das kann nicht unsere einzige Antwort sein! Unser Ziel heißt nicht Mindestlohn. Unser Ziel sind gute Tariflöhne, von denen ein Mensch leben und seine Familie ernähren kann! Deshalb brauchen wir starke Gewerkschaften und deshalb bin ich froh, dass Michael Sommer gestern bei uns war und zu uns gesprochen hat!
Übrigens: genau davon, und von nichts anderem, hängt auch die Tragfähigkeit unserer sozialen Sicherungssysteme ab. Nämlich von guten Löhnen! Nur wenn wir eine stabile Reallohnentwicklung haben, bleiben die Sozialsysteme robust genug: Nur dann werden wir mit der demographischen Herausforderung Schritt halten können. Und deshalb sagen wir auch: Frau von der Leyen zäumt mit ihren Vorschlägen das Pferd vom Schwanze auf. Oder wie Alfred Gusenbauer gestern gesagt hat: Was man bei der primären Verteilung der Wertschöpfung nicht erreicht, wird später durch sozialen Transfer im Alter nicht mehr korrigiert. Oder übersetzt für uns: Der Kampf gegen Altersarmut fängt mit dem Kampf gegen Erwerbsarmut an. So wird ein Schuh draus. Gute Arbeit und gute Rente sind eins!
Meine Damen und Herren, liebe Freunde,
wie vor zehn Jahren stehen wir nun an einer Wegscheide: Vor zehn Jahren haben wir Sozialdemokraten dieses Land aus einer Position der Stärke heraus modernisiert. Diese Regierung hätte die einzigartige Gelegenheit, dieses Land aus einer Position der Stärke heraus für die Herausforderungen der Zukunft aufzustellen. Dies ist eine glückliche Chance, die ihr in den Schoß gefallen ist. Aber sie weiß nichts mit dieser Chance anzufangen. Sie wartet lieber ab, statt Zukunft zu gestalten.
Dem setzen wir mit diesem Kongress und unserem Papier etwas entgegen: Wir wollen Anstöße geben. Das endgültige Wahlprogramm ist das noch nicht. Aber wir zeigen damit vor allem eine Haltung und wir machen einen Anspruch deutlich: Wir Sozialdemokraten haben mit unseren Ideen und Forderungen die gesellschaftliche Mehrheit hinter uns. Die Menschen wollen sozialdemokratische Antworten und sozialdemokratische Politik. Das ist eine gute Ausgangsposition für den Wahlkampf im nächsten Jahr.
Wir spielen auf Sieg, nicht auf Platz.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!