Swen Schulz (Spandau) (SPD): Die Ergebnisse der Leo-Studie vom Frühjahr 2011 zum Analphabetismus in Deutschland haben uns alle überrascht und gleichermaßen erschrocken. Mit 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten und 300 000 Menschen, die noch nicht einmal ihren Namen schreiben können, hatte wohl niemand gerechnet. Angesichts solcher Erkenntnisse erscheint das seit 2003 formulierte Ziel der Vereinten Nationen, mit einer Dekade der Alphabetisierung bis 2013 weltweit die Analphabetenquote zu halbieren, umso bedeutender – auch und gerade in Deutschland.
Man könnte erwarten, diese erschreckenden Zahlen hätten die Bundesregierung und die Öffentlichkeit aufgeschreckt, vielleicht sogar für das Anliegen sensibilisiert. Doch das Thema ist leider relativ schnell wieder verhallt. Wie konnte es dazu kommen? Selbstverständlich ist das Thema funktionale Analphabeten schwierig. Weder Unternehmen, die aktiv Alphabetisierungsmaßnahmen betreiben, noch die Betroffenen selbst äußern sich hörbar und öffentlich. Es bräuchte gerade deswegen eine Politik, die sich unbequemen Themen widmet, sie auf die öffentliche Agenda setzt und Handlungsmaßnahmen in Angriff nimmt. Bundesbildungsministerin Schavan hat – wie bei zahlreichen anderen Themen – lediglich eine große Pressekonferenz angesetzt und gab große Versprechen ab. Doch was ist nun nach nahezu einem Jahr davon übrig geblieben? Nichts, faktisch nichts hat sich an der Situation dieser Menschen geändert. Das Thema ist erneut im Sande verlaufen. Es ist tragisch, aber diese Entwicklung Schavan’scher Ankündigungen ist leider typisch. Die Leidtragenden sind jedes Mal die Betroffenen.
Auch die im Dezember getroffene Vereinbarung von Bund und Ländern brachte nicht den erhofften großen Wurf. Man einigte sich auf eine öffentlichkeitswirksame
Kampagne sowie länderübergreifende Kooperation und Vernetzung. Das ist natürlich gut und wichtig. Doch konzentrieren sich die Maßnahmen auf die Länder: kein
neues Projekt der Bundesregierung, keine Zusammenarbeit mit Sozialpartnern, mit der Bundesagentur für Arbeit oder anderen Aktiven in dem Bereich. Stattdessen
hat im vergangenen Jahr das BMBF der seit 2003 jährlich stattfindenden Fachtagung Alphabetisierung, die vom Bundesverband Alphabetisierung organisierte Plattform der gesamten Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit in Deutschland, die Förderung gestrichen.
So geht das nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition. Wir von der SPD-Fraktion schenken dem Thema Alphabetisierung größere Aufmerksamkeit. Wir haben als erste Fraktion nach der Studie einen Antrag mit konkreten Handlungsmaßnahmen und Zahlen in den Bundestag eingebracht. Wir wollen in Zusammenarbeit mit den Ländern und den Kommunen einen Grundbildungspakt schließen, der die Anzahl der Analphabeten halbieren soll. Wir nehmen dabei im Gegensatz zur Bundesregierung alle gesellschaftlichen Kräfte mit: Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, Sozialverbände, Kirchen wie auch die Medien sollen daran beteiligt werden. Wir wollen 25 Millionen Euro in diesem Jahr und mittelfristig 50 Millionen Euro jährlich für diesen Grundbildungspakt bereitstellen. Unser Ziel ist ein zügiger Ausbau der Kursplätze auf 100 000 pro Jahr. Das sind konkrete Projekte. Damit könnten wir substanziell die Situation dieser Menschen verbessern. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen geht, das will ich ausdrücklich
festhalten, in die richtige Richtung. Doch setzt unser Antrag im Vergleich selbst nach fast einem Jahr der Debatte immer noch Maßstäbe: Wir haben uns klar positioniert und dies an konkreten Zahlen festgemacht.
Eine wichtiger Punkt noch zum Schluss: Die Experten des im Ausschuss durchgeführten Fachgespräches haben vor allen Dingen einen Wunsch formuliert: Sie wollen keine kurzfristige Projektförderung mehr, bei dervon Jahr zu Jahr neu entschieden wird, ob die Arbeit weitergeführt und das Personal gehalten werden kann. Sie brauchen langfristige Strukturen und Planungssicherheit.
Ich finde, damit haben sie recht und es ist unterstützungswert. Dieses Thema ist zu wichtig, als dass dessen Finanzierung jedes Jahr am seidenen Faden hängen sollte. Um das zu ermöglichen, muss der Bund aktiv werden und den Ländern Hilfe leisten. Und auch dafür müssen wir an das Kooperationsverbot in der Bildungspolitik ran und langfristige Finanzierungsmöglichkeiten schaffen. Die SPD hat auch hierfür bereits Vorschläge gemacht.