Der Zuspruch zur sozialen Marktwirtschaft ist von mehr als 70 Prozent auf 48 Prozent gesunken. Auch das Vertrauen in die Demokratie hat rapide abgenommen. An diesen Warnzeichen darf niemand achtlos vorbeigehen, der die Verantwortung der Politik ernst nimmt, über taktische Spiele hinaus die tief liegenden Probleme unserer Zeit anzugehen.
Die soziale und ökologische Doppelkrise von Klimawandel, Raubbau, Finanzkrise und sozialer Spaltung, das Auseinanderfallen von Staaten und Gesellschaften, die Vorboten einer globalen Zuspitzung von Konflikten um lebensnotwendige oder wirtschaftlich wertvolle Ressourcen, all das schürt die berechtigte Sorge, dass unser vorherrschendes Wachstumsmodell auf Kosten der Zukunft lebt und nicht tragfähig ist. Wir wollen das Leitbild des Fortschritts neu denken und neu vermitteln. Dabei ist zu beachten, dass in der ökologischen Frage eine soziale und ökonomische Frage eingekapselt liegt.
Indem wir als Sozialdemokraten die grundlegenden Fragen nach unserem Wirtschafts- und Wachstumsmodell aufnehmen, die Teilhabequalität und den fairen Lastenausgleich der Gesellschaft adressieren, liefern wir den Schlüssel zu einem Fortschritt, vor dem niemand Angst haben muss. Mit anderen Worten: Nur die Antwort auf die soziale Frage öffnet den Weg für die gesellschaftliche Lösung der ökologischen Probleme.
Die Wende gelingt nicht als elitäre Veranstaltung von Bessergestellten, sie ist nur als großes gemeinsames Projekt zu bewältigen. Um den Gewinn an Lebensqualität und Wohlstand zu messen, reicht das Bruttoinlandsprodukt nicht aus. Ein Indikator, der wachsenden Wohlstand signalisiert, wenn spekulative Finanzgeschäfte die Bilanzen aufblähen oder wenn im Golf von Mexiko eine Ölplattform sinkt und kostspielige Rettungsmaßnahmen erforderlich sind, liefert uns keinen klaren Blick für eine bessere Zukunft. Der neue Fortschrittsindikator, den die Enquete entwickeln soll, muss daher auch die Qualität von Arbeit, die Einkommensverteilung, Bildung, Gesundheit und Umwelt einbeziehen. Das darf allerdings nicht zur statistischen Fummelei werden. Der Fortschrittsindikator ist Mittel zum Zweck. Er misst Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Er verhindert den Blindflug. Er kann ein Navigationsinstrument für die Politik von morgen sein.
Als Europäer handeln und Solidarität bekräftigen
Kaum etwas ist für unsere politische Zukunft so entscheidend wie Europa. Erinnern wir uns: Die Finanzmarktkrise war nicht nur die Geburtstunde der G20, sondern auch ein Testfall des europäischen Zusammenhalts, den wir mit der Abwehr der größten Risiken durch konzertierte Konjunkturprogramme bestanden haben. Offen bleibt allerdings, ob Europa aus der Krise lernt und wie wir vorsorgen, damit sich schuldenfinanzierte Rettungsaktionen nicht endlos wiederholen. In dieser Woche befasst sich der Haushaltsausschuss des Bundestages mit der Bitte Irlands um finanzielle Hilfe. Die Irland-Hilfe wirft jetzt wieder die Frage auf nach den Ursachen der Krise und nach der Zukunft nicht nur des Euro – der sich weit stabiler zeigt, als viele Auguren mutmaßten – sondern der EU als einer Solidargemeinschaft.
In einer Notlage ist schnelle und entschiedene Hilfe notwendig. Nur wenn der Patient gerettet wird, kann er anschließend auch genesen. Wir müssen Europa jetzt zusammenhalten, um es in Zukunft verbessern zu können. Dazu ist unabdingbar, dass gegenseitiges Vertrauen in der EU wieder wächst.
Angela Merkel hat mit ihrem teils hilfslosen, teils hochmütigen Agieren europäische Partner vor den Kopf gestoßen. Sie hat Zweifel geschürt. Sie hat die Rede vom „Merkel-Crash“ auf den Märkten provoziert. Sie hat den verheerenden Eindruck billigend in Kauf genommen, dass Deutschland Europa den Rücken kehrt.
Die aktuellen Schwierigkeiten Irlands, aber auch anderer Staaten, haben vor allem mit einem aufgeblähten Bankensektor zu tun, für den die Steuerzahler gerade stehen müssen. Wer heute Staatsschulden garantiert, ohne das Bankensystem zu sanieren, kuriert nur an den Symptomen herum. Erforderlich ist überdies Klarheit über die Architektur eines dauerhaften europäischen Krisenmechanismus. So lange die europäischen Staaten in fundamentalen Fragen uneins sind, werden die Märkte immer wieder die bestehenden Verabredungen auf die Probe stellen.
Wir brauchen in dieser Lage ein klares Bekenntnis zu Europa. Wir müssen aus dem kleinen populistischen Karo heraus. Wir müssen als Europäer handeln und die Solidarität bekräftigen, die uns gemeinsam stark macht. Dazu gehören jetzt Vorstöße, wie spekulative Finanzgeschäfte kontrolliert, wie die Branche über eine Finanztransaktionssteuer an öffentlichen Aufgaben beteiligt werden und wie eine Harmonisierung der Unternehmenssteuersätze in Europa gelingen kann.