Westerwelle zeichnet ein umfassendes und bewusstes Zerrbild der Politik der vergangenen Jahre.

Nur ein Beispiel: Dass sich die kleinen und mittleren Einkommen der "arbeitenden Bevölkerung" nicht so entwickelt haben wie es wünschenswert wäre, ist angesichts der weitreichenden Einkommensteuerentlastungen seit 1998 und angesichts der Abgabensenkungen der großen Koalition viel eher auf das Fehlen von Mindestlöhnen und auf sehr moderate Tarifabschlüsse in den vergangenen Jahren zurückzuführen.

Westerwelles Borniertheit gegenüber dem, was tatsächlich geschehen ist, verfolgt sicherlich zunächst einmal den Zweck, im Gespräch zu bleiben.

Denn genau das - im Gespräch zu bleiben - ist Westerwelles Lebenselixier und auch sein Politikkonzept. Aber: Westerwelles Zerrbild der Bundesrepublik Deutschland als Abzockerstaat, als Umverteilungsmoloch und - vor allem - als feindlicher Ort für Mittelstand und Mittelschicht und Westerwelles daraus abgeleitete Einforderung einer "geistig-politischen Wende" ist auch eine Kampfansage an die Bundeskanzlerin und die CDU/CSU, die nicht nur in den vergangenen vier Jahren der großen Koalition die Ausrichtung der deutschen Politik mitgetragen und mitbestimmt haben.

Und zu Ende gedacht und beim Wort genommen zielt Westerwelle mit seinem heutigen Interview im "Focus" auf eine andere Republik. Nicht erst seit heute weiß man: Westerwelle und die von ihm umfassend geprägte FDP wollen weg vom Verfassungspostulat eines "sozialen Bundesstaates".

Es ist ein unglaublicher und in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wohl einmaliger Vorgang: Der amtierende Vizechef der Bundesregierung spricht sich für eine weitreichende Systemänderung von Staat und Gesellschaft aus.