Herr Steinmeier, bei der Euro-Rettung entsteht der Eindruck, die Kanzlerin will das hart verdiente Geld der deutschen Sparer zusammenhalten, die Sozialdemokraten wollen es zum Fenster herauswerfen. Machen Sie hier nicht Politik auf Kosten Ihrer Kernwählerschaft?

Das Gegenteil ist der Fall. Am Ende hat doch die Haltung von Angela Merkel dazu geführt, dass eine grenzenlose und politisch nicht legitimierte Vergemeinschaftung von Schulden bereits stattgefunden hat. Denn jede Nichtentscheidung in Europa über die klar beschriebenen Umfänge und Grenzen von Solidarität zwang bislang die Europäische Zentralbank zum Handeln.

Mit dem Aufkauf von Staatsanleihen.

Richtig, aber das wurde durch kein Parlament in Europa begleitet, geschweige denn kontrolliert. Bisher marschieren wir von Rettungsaktion zu Rettungsaktion, gleichzeitig wird die Wirkung unserer Maßnahmen immer zweifelhafter. Wir beginnen gutes Geld, schlechtem hinterherzuwerfen. Das ist die Politik von Frau Merkel und nicht die von Sozialdemokraten. Deswegen wäre es höchste Zeit für Frau Merkel, sich ehrlich zu machen und die unkontrollierte Vergemeinschaftung von Schulden wieder in ein demokratisch kontrolliertes Verfahren zu überführen.

Profiteure von Eurobonds wären in jedem Fall die anderen, die Schuldenmacher — und nicht wir.

Bei der Diskussion um Eurobonds wird von Merkel doch ein Popanz aufgebaut. Ich sage immer ganz klar: Solidarität kann keine Einbahnstraße sein. Den schwierigen Weg, den wir mit unseren Strukturreformen gegangen sind, werden wir anderen nicht ersparen können. Dabei sollten wir aber aus unseren eigenen Erfahrungen lernen. Die SPD hat Deutschland zweimal in den letzten fünfzehn Jahren aus schweren ökonomischen Krisen geführt. Erst mit der Agenda 2010 und dann nach der Lehman-Brothers-Pleite 2008. Durch Sparen allein hätten wir das nie geschafft. Es war immer ein vernünftiger Mix aus Haushaltskonsolidierung, Strukturreformen und Wachstumsimpulsen in Form moderner Wirtschafts- und nicht Subventionspolitik. Diesen Weg müssen wir auch in Europa gehen. Aber zugleich muss der Grundsatz gelten, dass es weitere Hilfen nur gegen Souveräntitätsübertragung geben kann.

Aber die Zeitspanne ist doch das Problem. Gerade erst haben wir versucht, mit 100 Milliarden Euro den spanischen Bankensektor zu retten. Das hat nur einen Tag geholfen. Bleibt der Politik überhaupt die Zeit zu reagieren?

Politik muss das Diktat der Märkte aufbrechen. Kurzfristig sind drei Dinge nötig: ein formeller Antrag Spaniens auf die notwendige Sicherung seiner Banken mithilfe der Euro-Rettungsfonds, eine schnelle Regierungsbildung in Griechenland samt einem Bekenntnis zu dem mit Europa und dem IWF ausgehandelten Reformprogramm und ein belastbares Signal zum nächsten europäischen Gipfel, wie die fehlenden Puzzleteile der Währungsunion zukünftig eingesetzt werden.

Sollte Griechenland einen Zahlungsaufschub bekommen?

Die Konditionen können nicht neu verhandelt werden. Aber wenn in Athen eine Koalition derjenigen Kräfte zusammenkommt, die sich an die europäischen Vereinbarungen gebunden fühlen und den vereinbarten Reformkurs umsetzen, wird Europa nicht jedem Gespräch über die Umsetzungszeiten ausweichen können. Und ich sage ihnen voraus: Auch Frau Merkel wird einer solchen Regierung nicht die Ausgangsbasis zerschlagen, wenn über nichts anderes als eine Verlängerung um ein oder zwei Jahre verhandelt wird.

Die Neuverhandlung bezöge sich aber nur auf das Zahlungsziel?

Die Vereinbarungen über die Reformen an sich stehen. Hieran darf sich auch nichts ändern. Ich fürchte aber, wir werden uns in diesem Sommer noch zu mehreren Sondersitzungen des Parlaments zusammenfinden. Ein modifiziertes zweites Griechenland-Hilfspaket müsste auf jeden Fall vom Plenum des Deutschen Bundestages beschlossen werden. Darüber hinaus werden wir bald mindestens über die Stabilisierung des spanischen Bankensektors entscheiden müssen. Und auch Zypern könnte noch an die Tür klopfen.

Die Kanzlerin signalisiert aber jeden Tag, dass mit ihr im Falle der Griechen kein Schritt von den bestehenden Auflagen abgewichen werden kann.

Vom Betreuungsgeld bis zum Euro – in dieser Regierung signalisiert jeder fast täglich etwas anderes. Wir haben eine Regierung, der schon die einfachsten Dinge über den Kopf wachsen. Während die Kanzlerin für die Griechen mal wieder jede Verlängerung des Zahlungsziels ausschließt, geht die FDP mit Außenminister Westerwelle von solchen Möglichkeiten aus. Die Kanzlerin sollte sich überlegen, ob die erneute Ausgabe einer roten Linie der Glaubwürdigkeit deutscher Politik hilft. Mit jeder roten Linie, die sie zieht, schielt Merkel nach kurzfristigen innenpolitischen Geländegewinnen, nach dem Motto „Kein Cent den Griechen“. Dann wird diese Linie regelmäßig überschritten. Mit ihrem Zickzackkurs trägt die Regierung Merkel nicht dazu bei, die Märkte zu beunruhigen. Damit wird Frau Merkel zum Teil des Problems.

Wird das Muster auch bei Instrumenten zum Altschuldenabbau, etwa Eurobonds, zu sehen sein?

Mit Sicherheit. Es wird so kommen. Wer aufmerksam hinhört, merkt doch schon, wie sich in der Regierung die Sprache verändert.

Eurobonds, Eurobills, Schuldentilgungsfonds – was hielten Sie denn für besser?

Eine Strategie, mit der auch die Märkte zu beruhigen sind, muss eine kurzfristige Intervention und den langfristigen Wiederaufbau von Vertrauen umfassen. An beidem mangelt es derzeit. Es könnte helfen, wenn wir uns dazu bekennen, dass die Währungsunion ihre Defizite hat, die wir aufarbeiten müssen – etwa im Bereich der gemeinsamen Wirtschafts- und Steuerpolitik. Dazu gehört aber auch eine Lösung, wie wir mit den aufgelaufenen Altschulden in Europa umgehen. Wie schaffen wir für die hochverschuldeten Länder eine Art „Reset“, einen Neustart? Vor diesem Hintergrund finde ich den Vorschlag eines Schuldentilgungsfonds vom deutschen Sachverständigenrat mehr als diskussionswürdig. Wer aber permanent solche Alternativen mit Tabus belegt, leistet keinen Beitrag zur Lösung.

Pflegen denn die Parteien die richtige Europa-Rhetorik? Redet man nicht über die Köpfe hinweg, wenn man den Euro und seine Rettung mit Krieg und Frieden und am Ende mit den Verbrechen Hitlers begründet?

Wir müssen sicherlich stärker Europa als deutsches Interesse begründen. Nur so können die Deutschen Europa auch zu ihrem Europa machen. Noch 1900 stellten die Europäer 33 Prozent der Weltbevölkerung, 2050 werden es nur noch vier Prozent sein. Die Deutschen wiederum schrumpfen von 80 auf 65 Millionen. Allein diese Zahlen verdeutlichen, dass eine Politik nationaler Alleingänge für uns Deutsche keine Alternative mehr ist. Aber weniger Pathos und dafür Substanz in der Europapolitik wäre sicherlich hilfreich.

Heute ist erneut eine Spitzenrunde von Koalition und Opposition mit der Kanzlerin geplant. Erwarten Sie dort den Durchbruch für den Fiskalpakt?

Wir streiten nicht über die Notwendigkeit von Konsolidierung, jedenfalls nicht zwischen Regierung und SPD. Auch wir sind für die Reduzierung von Neuverschuldung, weil Staaten sonst immer stärker zum Spielball der Finanzmärkte werden. Wir streiten aber darüber, wie Konsolidierung erreichbar ist. Haushaltsdisziplin ist das eine. Aber gegen wachsende Schulden kann man nicht ansparen ohne Wachstum. Deshalb kommt es auf Ergänzungen an, etwa Wachstums- und Investitionsimpulse und ein wirksames Programm gegen die Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Finanziert werden darf das nicht durch neue Schulden, sondern durch eine Finanztransaktionssteuer. Hier hat sich die Regierung entscheidend bewegt. Im Übrigen erwarte ich, dass die Regierung ihre Fundamentalopposition beim Schuldentilgungsfonds aufgibt und zumindest bereit ist, darüber mit ihren europäischen Partnern ernsthaft zu diskutieren.

Was heißt das?

Wenn wir zu verbindlichen Vereinbarungen kommen, dann kommen wir einem gemeinsamen Beschluss des Bundestags ein gutes Stück näher. Nötig ist auch eine Einigung mit den Bundesländern, denn auch im Bundesrat ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich.

Zuletzt untermauerte die SPD ihre Forderungen mit einer Reise der Troika zu Frankreichs neuem Staatspräsidenten Hollande. Provozieren solche Bilder nicht, dass deutsche Interessen insgesamt geschwächt werden?

In Europa hängt so vieles davon ab, wie man auftritt. Das konnte Deutschland früher mal besser. Die Sozialdemokratie hat nicht gegen Merkel verhandelt, sondern hat in einer Zeit sichtbar belasteter deutsch-französischer Beziehungen den Makler gespielt. Ich denke, dass durch unsere Kontakte zu Präsident Hollande eine deutsch-französische Verständigung auf dem Gipfel einfacher geworden ist.

Ist es denn klug, immer zu dritt zu solchen Treffen aufzulaufen? Das wirkt seltsam überhöht und auch ein bisschen albern.

Es geht hier nicht um Marketing, sondern um die Frage, ob und wie wir Auswege aus der tiefsten europäischen Krise finden. Da haben wir alle drei Erfahrungen, die wir einbringen können. Die konservative Parteien pflegen ihre Kontakte untereinander. Nichts anderes tun wir. Wenn es zu solchen Abstimmungsgesprächen kommt, sollte man das als Fortschritt begreifen.

Also fragen wir anders: Warum legen Sie sich nicht schon jetzt auf einen SPD-Kanzlerkandidaten fest?

Ich verstehe ihr Interesse daran. Bis zur Entscheidung nach der Niedersachsenwahl im Januar 2013 wird das Format der Troika Bestand haben. Wir drei gehen erkennbar fair miteinander um. Und das wird so bleiben.

Herr Steinmeier, vielen Dank für das Interview.