Herr Steinmeier, genau vor einem Jahr mahnte das Bundesverfassungsgericht an, die Hartz-IV-Regelsätze verfassungsfest zu machen.
Die Regierung hat eine Neuregelung ein Jahr lang verschleppt. Arbeitsministerin von der Leyen hat wegen des Streits in der Koalition erst Anfang Dezember einen Vorschlag gemacht, der aus unserer Sicht weder verfassungsgemäß war, noch ausreichend etwas für die Menschen verbessert hätte. Ich finde es unverantwortlich, dass Union und FDP die Verhandlungen haben platzen lassen und nicht zu einem Kompromiss bereit waren. Wir wollten uns einigen.
Die Regierung behauptet, sie hätte Ihnen einen Kompromiss angeboten. Warum haben sie nicht wenigstens kleine Verbesserungen vereinbart?
Union und FDP wollten keine Einigung. Frau Merkel hat bereits am Dienstagmittag, noch vor Beginn der letzten Verhandlungsrunde, alle Türen zugeschlagen. Sie hat Frau von der Leyen diktiert, dass sie sich in den Verhandlungen nicht mehr bewegen darf. Wir haben trotzdem noch einmal Kompromissangebote gemacht. Wir wollten etwas für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für Kinder und für Hartz-IV-Empfänger erreichen.
Was haben Mindestlöhne und Equal-Pay mit den Hartz-IV Regelsätzen zu tun?
Wer Armut in Deutschland wirklich bekämpfen will, muss doch erstmal dafür sorgen, dass sie gar nicht erst entsteht. Deshalb wollten wir endlich gleichen Lohn für gleiche Arbeit durchsetzen. Es kann doch nicht sein, dass überall in Deutschland immer öfter ganze Kernbelegschaften durch Leiharbeiter ersetzt werden, die für die Hälfte oder noch weniger des Lohns arbeiten müssen. Am 1. Mai wird unser Arbeitsmarkt für alle Arbeitnehmer aus den Osteuropäischen Staaten geöffnet. Wenn bis dahin nicht Mindestlöhne und gleiche Bezahlung durchgesetzt werden, kommt eine Lohnspirale nach unten in Gang, die ganz Deutschland betreffen wird. Offensichtlich sind die Interessen der Arbeitnehmer Union und FDP aber völlig egal.
Und warum war keine Einigung beim Bildungspaket und bei den Regelsätzen möglich?
Wir wollten einen verfassungsfesten Regelsatz. Frau von der Leyen hat nicht sauber gearbeitet, und das hat sie an einzelnen Stellen auch zugeben müssen. Aber sie war nicht bereit, ihre Fehler so zu korrigieren, dass wir guten Gewissens zustimmen konnten. Beim Bildungspaket waren wir uns am nächsten. Aber wir wollten, dass die Kommunen das Geld, das sie den Kindern geben, scharf beim Bund abrechnen können. Nur so wäre sichergestellt, dass auch jedes Kind die Hilfe bekommt, die es braucht. Frau von der Leyen redet zwar immer großspurig über ihre Familienfreundlichkeit. Aber sie war nicht bereit sicherzustellen, dass das Geld auch wirklich bei jedem Kind ankommt. Für solche Mogelpackungen stehen wir nicht zur Verfügung.
Will die SPD das Thema im Landtagswahljahr zur entscheidenden Frage über soziale Gerechtigkeit erklären und entsprechend hinausziehen?
Ich glaube, dass Frau Merkel mit ihrer Ansage die Verhandlungen scheitern zu lassen, einen großen Fehler begangen hat. Die Menschen und die Hilfeempfänger erwarten, dass nun endlich politische Konsequenzen aus der verfassungsrichterlichen Entscheidung gezogen werden und sie wissen, dass die Regierung dazu mit der Opposition verhandeln muss. Wenn Frau Merkel das jetzt verweigert, muss sie die Konsequenzen tragen. . Wir bleiben gesprächsbereit.
Dumpinglöhne in der Leiharbeit sind eine Folge der von der SPD veranlassten Arbeitsmarktreformen. Ist es Strategie oder dringende Notwendigkeit, jetzt von der Bundesregierung zu verlangen, diese Scharte schleunigst auszuwetzen?
Politische Entscheidungen sind aus der Zeit heraus zu verstehen, zu der sie getroffen werden. Die Neuordnung der Arbeitsmarktpolitik ist auf dem Stand von fünf Millionen Arbeitslosen erfolgt. Niemand wird bestreiten, dass die unter Gerhard Schröder begonnene Reform von Wirtschaft- und Arbeitsmarkt zu der vergleichsweise guten Lage beigetragen hat, in der wir uns heute befinden. Dort wo politische Maßnahmen unbeabsichtigte und sogar schädliche Folgen haben, müssen sie aber beseitigt werden. Deshalb fordern wir nicht erst seit heute Mindestlöhne und gleichen Lohn für gleiche Arbeit, um Auswüchse bei der Leiharbeit zu begrenzen. Wer sich hier nicht bewegt, ist die Regierung und hier genau die FDP.
In zwei Wochen steht in Hamburg die erste Landtagswahl des Jahres an. Die FDP ist zur Koalition mit der SPD bereit – eine Chance, das Lagerdenken zu überwinden, oder koaliert die SPD immer mit den Grünen, wenn sich nur die Chance ergibt?
Die Grünen sind befreundete Konkurrenz, vor allem aber strategischer Partner, mit denen wir Mehrheiten in den Ländern und 2013 auch im Bund erringen wollen. Was die FDP angeht, so erinnere ich mich gut an die Töne des Wahljahres 2009. Noch im letzten Jahr musste mit Andreas Pinkwart der Landesvorsitzende in Nordrhein-Westfalen gehen, weil er Gedankenspiele über Koalitionen mit Sozialdemokraten anstellte. In diesem Jahr weiß ich nicht einmal, ob die FDP in den Parlamenten dieser Länder vertreten sein wird, wo sie jetzt über Koalitionen spekuliert. Ich habe mich da nie borniert verhalten. Es war nach meiner Überzeugung sogar ein Qualitätsausweis unserer Demokratie, dass es Koalitionsmöglichkeiten unterschiedlicher Partner gab. Es war die FDP, die mit ihrer Wahlkampfstrategie die Spaltung dieses Land vorangetrieben hat. Dass dieser Weg falsch war, muss zunächst die FDP erkennen.
In Baden-Württemberg sieht es nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen aus. Was müssen die Grünen bringen – und was kann die SPD bringen, um Schwarz-Gelb abzulösen?
Der Wahltag von Hamburg wird neuen Schwung in das Wahljahr bringen. Spätestens dann werden Union und FDP erkennen, dass die Fortsetzung von Schwarz-Gelb kein Selbstläufer ist. SPD und Grüne sind gut aufgestellt – Schreckgespinste, wie die CDU sie malt, funktionieren nicht mehr. Beide Parteien sind aufgeschlossen für die Wirtschaft. Die Wirtschaft wiederum weiß, dass Baden-Württemberg viel zu gewinnen hat mit einer Öffnung und Modernisierung unter Führung von Nils Schmid und der SPD.