taz: Herr Schneider, Sie sind seit kurzem Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion. Haben Sie in dem Job Macht?
Carsten Schneider: Einfluss und Wissen. Insofern auch die Macht, Ziele durchzusetzen. Macht ist ja nichts Schlechtes.
Und Sie, Herr Korte?
Jan Korte: Als PGF arbeitet man im Maschinenraum des Parlamentes und verabredet maßgeblich die Abläufe, Parlamentsdebatten und Gesetzesinitiativen. Einfluss trifft es.
Peter Altmaier, Franz Müntefering, Olaf Scholz waren mal PGF. Ist das ein Karrieresprungbrett?
Schneider: Es ist eine zentrale Stellung. Es kann nach oben gehen. Oder, wenn man die nicht richtig ausfüllt, Endstation sein.
Was ist anders – im Vergleich zu dem Job als Parlamentarier zuvor?
Korte: Ich kann nicht mehr so in innerparteilichen Auseinandersetzungen mitmischen. Als PGF muss ich auch die Interessen von Abgeordneten wahrnehmen, deren Ansichten mir auf den Docht gehen. Man muss gegenüber der Fraktion die Balance finden - im Prinzip beliebt sein, aber sich unbeliebt machen können.
Schneider: Man muss als PGF auch mal unangenehm sein. Und verhindern, dass die Fraktion ein Hühnerhaufen wird. Das erwarten die Kolleginnen und Kollegen auch.
In der PGF-Runde treffen sie jetzt den AfD-Politiker Bernd Baumann. Waren Sie schon mal mit dem Kaffee trinken?
Korte: Nein.
Schneider: Nein.
Warum nicht?
Korte: Mein Grundsatz ist: Ich bin zur AfD so unfreundlich wie es die Geschäftsordnung des Bundestages zulässt.
Ist die AfD professionell?
Schneider: Wir verabreden in einer interfraktionellen Runde die Abläufe für den Bundestag. Da ist es jetzt schon mehrfach vorgekommen, dass die AfD nach ihrer Zustimmung wieder Rückzieher macht. Das ist dann schon frustrierend. Ich weiß nicht, ob es an fehlender Autorität liegt oder die Abläufe nicht verstanden werden.
Korte: Die AfD-Fraktion heult ja derzeit, dass sie ausgegrenzt wird. In der PGF-Runde ist sie unfähig, formale Verfahren zu verabreden. Das ist eher Selbstausgrenzung.
Geben Sie AfD-Abgeordneten die Hand?
Korte: Wenn es sich nicht vermeiden lässt.
Schneider: Ich bin grundsätzlich anderen Menschen gegenüber offen. Aber wenn jemand, wie mein AfD-Gegenkandidat aus Erfurt, tweets mit Machete-Bildern verschickt,
... also Gewaltdrohungen …
... dann hab ich keine Lust, mit so jemand zu normal umzugehen. Aber ich entscheide das individuell, von Fall zu Fall.
Antje Vollmer, frühere Bundestagspräsidentin, empfiehlt „knochentrockene Nüchternheit“ gegenüber der AfD. Einverstanden?
Korte: Ja. Wir dürfen nicht über jedes Stöckchen springen, das die AfD uns hinhält. Aber manchmal müssen wir, dosiert und schlau, ganz deutliche Linien gegenüber der AfD ziehen.
Schneider: Dem schließe ich mich an.
Sie sind sich ja in vielem einig. Aber ganz so einfach ist es mit der AfD dann doch nicht. Am Dienstag bekam der Linkspartei-Abgeordnete Alexander Neu für eine Assad-freundliche und USA-kritische Rede zu Syrien tosenden Applaus – von der AfD. Wie fühlt sich das an?
Korte: Das war keine Assad-freundliche Rede. Die AfD hat danach auch bei Jürgen Trittin applaudiert. Dass die AfD klatscht, wenn wir richtige Dinge sagen, kann für uns kein Argument sein.
Schneider: Es gibt bei einigen in der Linkspartei Schnittmengen mit der AfD. Etwa im Antiamerikanismus oder bei der Reduzierung deutschen Engagements im Ausland. Auch bei Sahra Wagenknechts sozialnationalistischen Ideen gibt es Ähnlichkeiten zur AfD. Das werdet ihr klären müssen. Not my cup of tea.
Korte: Stopp, wir gehören nicht in die AfD-Ecke. Und wir sind auch nicht antiamerikanisch. Sahra Wagenknecht macht keine sozialnationalistische Politik. Das ist verleumderisch. Konkret: Wir sind gegen die Sanktionen gegen Russland und werben für eine Verständigung mit Russland....
Schneider: Die will ich auch ...
Korte: … um so besser. Aber: Die AfD ist Pro-Putin, weil sie autoritäres Mackertum gut findet. Ich werbe für eine Verständigung mit Russland aus Antifaschismus, wegen des Vernichtungskrieges der Wehrmacht, während Gauland auf die Leistung von der Wehrmachtssoldaten stolz ist. Das sind völlig unterschiedliche Gründe.
Schneider: Aber es gibt Ähnlichkeiten. Der Höcke-Flügel klingt bei der Kritik des Finanzkapitalismus und der EU wie die Linkspartei. Der will, wie der Front National unter Marine Le Pen, Nationales und Sozialistisches verbinden.
Korte: Voll falsch. Wir Linken sind Internationalisten, die AfD sind Nationalisten ...
Schneider: Bei Wagenknecht bin ich mir nicht sicher ...
Korte: Doch ist sie. Wenn wir die EU retten wollen, müssen wir sie radikal ändern.
Schneider: Die Linkspartei hat zu fast allen Schritten für mehr europäischer Integration Nein gesagt. Ihr hattet eure Gründe. Wir werden künftig mehr Integration brauchen, um die EU zu retten. Das ist die Kernfrage: Wo steht die Linkspartei? In der nationalen Ablehnungsfront mit der AfD? Die AfD wird einen Klärungsprozess in der Linkspartei katalysieren.
Korte: Ja, wir streiten in unserer Partei über die EU. Das müssen wir auch. Der Brexit hat gezeigt, dass die Leute in den deindustrialisierten Regionen, in Sheffield oder Birmingham, europäische Integration als Bedrohung empfinden. Das müssen wir doch zur Kenntnis nehmen. Für die Leute machen wir als Sozialisten Politik. Das hat Labour mit Jeremy Corbyn – Partner der SPD – vorbildlich gemacht.
Schneider: Es gibt von Osteuropa bis Italien einen Trend zur Renationalisierung. Dem muss sich die politische Linke entgegenstellen. Wenn aber auch Linke mit Anti-EU-Ressentiments spielen, wie Melenchon in Frankreich, ist das gefährlich.
Wie sieht es mit dem schon mehrfach beerdigten Rot-Rot-Grün aus?
Schneider: Ich bin grundsätzlich offen für eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei im Bund. Aber dafür muss die Linkspartei ihre Position zu Europa klären. Im Bundestag geht es mir nicht in erster Linie um Abgrenzung zur Linkspartei. Der politische Feind sitzt im Plenarsaal ganz rechts.
Korte: Wir hatten jahrelang rot-rot-grüne Mehrheiten, die nicht genutzt wurde. Und kleine Erinnerung: Bei Martin Schulz Höhenflug Anfang des Jahres hatten wir in der Linksfraktion aufgeschlossene Debatte über eine Regierung mit der SPD – weil die für einen Moment möglich schien. Diese Annäherung haben die Sozialdemokraten beendet, nicht wir.
Ist das Parlament jetzt, ohne richtige Regierung, freier?
Korte: Ja, wir könnten die Zeit nutzen und zum Beispiel den Paragraphen 219a abschaffen.
Macht die SPD da mit?
Schneider: Ja, wir haben einen Antrag dazu eingebracht. Ich will, dass das Parlament lebendiger wird. Die Kanzlerin sollte regelmäßig im Parlament Rede und Antwort stehen. Darüber wollen wir jetzt schnell reden. Ich könnte mir auch vorstellen, dass der Bundestag vor der Meinungsbildung in der Regierung eine Orientierungsdebatte zu wichtigen Themen führt.
Mehr Freiheit für das Parlament klingt gut, ist aber auch riskant. Wie wollen Sie verhindern, dass Gesetze, etwa für eine Reduzierung von Glyphosat, nur angenommen werden, weil die AfD zustimmt?
Schneider: Das können wir nicht verhindern. Wir werden uns davon aber nicht abhängig machen.
Wirklich?
Korte: Wir werden uns von der AfD nicht vorschreiben lassen, welche Anträge wir einbringen. Die Konsequenz wäre: Wir ändern unsere Reden, Anträge, Gesetzesinitiativen, nur weil es die Gefahr gibt, dass diese Truppe uns mal zustimmt. Wir lassen uns von denen nicht unsere Agenda diktieren. Die Frage ist: Wie verrammeln wir im Bundestag die Tür zwischen AfD und Union? In Sachsen-Anhalt ist diese Tür schon geöffnet.
Aber wenn SPD, Grüne, Linkspartei mit AfD-Stimmen Gesetze verabschieden, öffnen sie das Tor für die Union, das verrammelt werden soll. Warum soll die Union denn auf AfD-Unterstützung verzichten, wenn sogar die Linkspartei mit AfD-Unterstützung Gesetze macht?
Korte: Wir können nicht bei jedem Antrag prüfen, ob die AfD vielleicht dafür sein könnte ...
Ist es nicht der Job der PGFs Mehrheiten zu organisieren – und zu checken, ob es Mehrheiten ohne AfD gibt?
Korte: Doch, machen wir. Ich sehe das Problem. Aber das würde bedeuten, dass alle Fraktion bei allen Entscheidungen scannen, ob es immer Mehrheiten ohne AfD gäbe. Damit lassen wir uns von denen die parlamentarische Arbeit diktieren. Das kann es nicht sein. By the way sollten nicht alle Debatten um die AfD kreisen. So wichtig ist sie nicht.
Schneider: Wir machen uns bei unseren Vorschlägen nicht abhängig davon, wer zustimmt – und die Union wird das auch nicht tun. Es gibt eine Mitte-Rechts-Mehrheit im Bundestag. Deswegen bin ich skeptisch gegenüber einer Minderheitsregierung, Tolerierung oder einer Kooperation ohne feste Koalition. Denn so wird die AfD enorm aufgewertet. Diese Rolle will ich ihr nicht geben. Aber eine Art Allparteienkoalition gegen die AfD, die im Bundestag alle Gesetzesinitiativen abklopft, ob sie auch ja der AfD nicht nutzen, hätte etwas von Notstand. So schlimm ist es in Deutschland noch nicht.
Teilweise schon. In ihren Wahlkreisen in Thüringen und Sachsen-Anhalt haben mehr Bürger für die AfD gestimmt als für SPD oder Linkspartei. Was ist schief gegangen?
Schneider: Das ist, neben dem Rassismus, der sich gesellschaftlich verstärkt hat, ein sozioökonomisches und ein kulturelles Problem. Wir müssen wieder stärker die Pils-Fraktion sein, nicht die Latte-Macchiato-Fraktion.
Korte: Die AfD hat in meinem Wahlkreis auch Stimmen von der Linkspartei bekommen. Warum? Weil viele das Gefühl haben: Ihr bekommt gar nicht mehr mit, dass es uns gibt. Wir kommen bei euch in Berlin nicht mehr vor. Wir müssen also erstmal wieder zum Thema machen wie Arbeiter und Arbeitslose leben. Da hat die SPD ein noch größeres Problem. Denn mit Hartz IV hat die SPD –
Schneider: … ach je …
Korte: ja, auch wenn ihr das nicht mehr hören könnt – hat die SPD, mal oldschool gesprochen, materiellen Verrat an der Arbeiterklasse begangen. Das reicht von miesen Löhnen über Leiharbeit bis zu prekären Jobs. Die Linkspartei muss wieder, wie 2009, für die unten da sein. Wenn wir uns damit abfinden, dass wir katastrophal bei Arbeitern und Arbeitslosen abschneiden, sind wir überflüssig. Das sage ich klipp und klar, auch wenn ich stolz bin, dass wir in den jungen urbanen Milieus gewonnen haben. Und: Auch die Große Koalition hat den Boden für die Rechtspopulisten gedüngt. Deshalb sollte die SPD die nächste Groko meiden.
Schneider: Ich kämpfe um die Menschen in den Plattenbauten und versuche dort klar zu machen, dass nicht der Flüchtling aus Syrien schuld ist, sondern dass wir bessere Jobs und gerechtere Steuern brauchen. 2017 kamen wir mit diesen Themen nicht durch. Es ging nur um Zuwanderung. Es war, wie Jan Korte richtig sagt, eine „can you hear me“ Wahl. Die jungen Mitglieder der Linkspartei spiegeln nicht mehr die ehemalige Wählerschaft wider. Die Linkspartei entwickelt sich so zur linken Boheme Partei in urbanen Zentren, die auf die Unterschicht herab blickt.
Es ist der Job der SPD, sich um die Plattenbauten zu kümmern. Denn die dürfen wir nicht der AfD überlassen.
Interessant, dass Ihre Analysen sich im Kern ähneln: SPD und Linkspartei haben den Kontakt zur Stammklientel verloren. Duzen Sie sich eigentlich?
Korte: Ja.
Schneider: Ja.
Ist das üblich unter PGFs?
Korte: Nö, aber auch nicht so außergewöhnlich.
Müssen moderne Politiker auch Privates in der Öffentlichkeit zeigen?
Schneider: Ich versuche das so weit es geht zu beschränken. Also ein wenig über Hobbys, und dass ich zwei Kinder habe. Aber niemals Fotos von ihnen.
Korte: Ich wehre alle Anfragen in die Richtung Privates ab. Das bleibt auch so. Das Einzige worüber wir öffentlich sprechen, ist Angeln. Das machen wir beide.
Ist Angeln in der facebook Ära, in der die Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem verschwimmen, nicht etwas wenig?
Schneider: Nein. Was meine Frau macht, entscheidet sie selbst. Klar, meine Kinder fänden es super, mal im Fernsehen zu sein. Aber das kann ich nicht verantworten. Außerdem: Wer einmal sein Wohnzimmer öffnet, bekommt es nicht mehr zu. Denken Sie an Rudolf Scharping und die Badebilder.
1998 als sie mit 22 Jahren in den Bundestag kamen, haben Sie erzählt, dass sie manchmal kiffen. War das ein Fehler?
Schneider: Nee. Ich wurde gefragt. Wenn ich Nein gesagt hätte, das hätte mir sowieso niemand geglaubt. Ich bin der Platte aufgewachsen und war ja nicht auf einem Internat.
Sie haben damals gesagt, dass man nur zwölf Jahre im Bundestag bleiben sollte, weil man danach verblödet. Jetzt sind es fast 20 Jahre. Leben Sie in einer Blase?
Schneider: Ja, natürlich. Aber mir ist bewusst, dass ich anders lebe als die Allermeisten. Und ich versuche mich zu erden, mit alten Freunden, der Familie, im Wahlkreis.
Korte: Klar leben wir in einer Blase, und es besteht die Gefahr, dass man nicht mehr alles mitbekommt, was draußen passiert. Deswegen muss man die Blase regelmäßig verlassen. Aber ich halte nichts von der Selbstkasteiung von Politikern. Politiker sollten sich nicht beklagen.
Wir haben uns den Job selbst ausgesucht. Das ist ein Job auf Zeit, der kann schnell vorbei sein. Erst recht, wenn man mal Mist baut.
Passt Politikersein eigentlich zur Familie?
Schneider: Nein.
Kann man das ändern?
Schneider: Es ist schwierig, weil das kein Job sein kann, der von neun bis fünf Uhr geht. Aber wir nehmen in der Fraktionsspitze Rücksicht aufeinander. Wenn ich Andrea Nahles sage, dass ich heute Abend um 18 Uhr bei der Theatervorführung meiner Kinder in der Kirche sein muss, dann geht das klar. Egal, was passiert.