Die sinkende Wahlbeteiligung schade der Demokratie, weil Wahlen immer weniger repräsentativ seien und eine immer größere soziale Spaltung aufwiesen, betonte Professor Robert Vehrkamp in seinem einleitenden Impulsvortrag. Der Direktor des Programms "Zukunft der Demokratie" der Bertelsmann Stiftung warf besonders zwei wissenschaftliche Erkenntnisse zu „Nichtwähler-Milieus“ in die Runde: Je geringer das Haushaltseinkommen und der Bildungsstand, desto niedriger sei auch die Wahlbeteiligung. Und: Nichtwählen vererbt sich. Wer also aus einem "Nichtwähler-Haushalt" kommt, begeistert sich in der Regel auch im Laufe seines Lebens nicht mehr für sein Wahlrecht. Vehrkamp ist überzeugt: Der wichtigste "Hebel" sei daher die Steigerung der Erstwählerbeteiligung. Je früher und je häufiger Erst- und Jungwähler ihre Stimme abgeben, desto höher fiele langfristig auch die allgemeine Wahlbeteiligung aus, sagte Vehrkamp mit Verweis auf die Ergebnisse der Bertelsmann-Studie "Wählen ab 16".
Darüber hinaus nannte er sieben weitere Lösungsstrategien für mehr Wahlbeteiligung: eine staatlich finanzierte Haustür-Mobilisierungskampagne speziell für Nichtwähler, eine Reform der Parteienfinanzierung, die Modernisierung der Urnenwahl (hin zu zentralen Wahlregistern und der Option, in jedem Wahllokal wählen gehen zu dürfen), die stärkere Nutzung des Internets und der Potenziale der Briefwahl, eine Zusammenlegung von Wahlterminen und die Vereinfachung des Wahlrechts, damit die Bürgerinnen und Bürger den Zusammenhang zwischen Stimmabgabe und der letztendlich erteilten Mandate verständlicher nachvollziehen können.
Menschen wieder für Politik und Demokratie mobilisieren
In der anschließenden Diskussionsrunde warnte Norbert Lammert davor, die abnehmende Wahlbeteiligung weder zu banalisieren noch zu dramatisieren. „Die allermeisten stabilen und älteren Demokratien um uns herum würden sich beglückwünschen, wenn sie die Wahlbeteiligung erreichten, die hierzulande Anlass zur Besorgnis gibt", gab Lammert zu Bedenken.
Thomas Oppermann entgegnete, er sehe es durchaus mit Sorge, dass die Wahlbeteiligung kontinuierlich sinkt, „weil damit auch die Wertschätzung für unsere Demokratie ein bisschen in Frage steht“. Für ihn sei Wählen "eine demokratische Pflicht". Und für Politik und Demokratie müsse man die Menschen wieder begeistern im Sinne des "Empowerment"-Ansatzes.
Besorgniserregender sieht Lammert den zu beobachtenden Mitgliederschwund der politischen Parteien. Auf die Frage der Moderatorin, der "Spiegel"-Journalistin Christiane Hoffmann, ob sich Bürger durch die Volksparteien nicht mehr vertreten fühlten, sagte der Bundestagspräsident: "Jede einfache Erklärung ist falsch oder zumindest unvollständig". Vielmehr seien "Individualisierung von Interessen und Bedürfnissen" dafür verantwortlich, dass sich Bürger nicht mehr vertreten fühlten. Da hätten es Parteien als "Agenturen" für eher "konzeptionelle Gesellschaftsentwicklungen" nicht leicht.
Thomas Oppermann griff unter anderem die von Professor Vehrkamp eingeführte Erklärung der sozialen Herkunft und des sozialen Umfelds auf: Menschen gingen wählen, wenn es ihr Umfeld auch tut, so der SPD-Politiker. In einigen Wohnquartieren und Stadtvierteln herrsche "Resignation" aufgrund der Meinung, dass Wahlen nichts bewirkten. Mögliche Lösungsansätze, dem entgegenzuwirken, sieht Oppermann unter anderem im Ausbau der politischen Bildung und einer "gemäßigten plebiszitären Demokratie", in der Bürgerinnen und Bürger auch während der Legislatur "die Regierungsmehrheit punktuell korrigieren können".
Einig waren sich beide Parlamentarier in ihrer Ablehnung einer "Wahlpflicht" und in der Einschätzung einig, dass Parteien mit extremistischen Positionen bei einer hohen Wahlbeteiligung weniger Erfolgsaussichten hätten. "Hohe Wahlbeteiligungen tragen eher zur Stabilisierung eines demokratischen Spektrums bei", so Lammert.
Jasmin Hihat