In seiner Begrüßungsrede zur Gedenkfeier für den Sozialdemokraten Otto Wels ordnet SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier dessen historische Rede zum Ermächtigunsgesetz vor 80 Jahren ein und macht deutlich, warum die Worte von Wels noch heute Bedeutung für die Gesellschaft und die Politik haben.

Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident,
sehr geehrte Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Thierse und Eduard Oswald,
meine Damen und Herren,
Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete,
lieber Sigmar Gabriel,
liebe Gäste,

herzlich willkommen im Otto-Wels-Saal der SPD-Fraktion. An normalen Tagen versammeln sich hier die Abgeordneten der SPD, um aktuelle politische Ereignisse zu diskutieren und das gemeinsame Abstimmungsverhalten festzulegen. Jedes Mal, wenn wir diesen Saal betreten, gehen wir vorbei an dem Foto des Mannes, der diesem Saal seinen Namen gegeben hat. Jedes Mal streifen unsere Augen kurz die in die Wand eingelassenen Namen derer, die gemeinsam mit Otto Wels den Mut gehabt haben, „Nein“ zu sagen zur Abschaffung der Demokratie. Und seit gestern stehen dort weitere Namen: Von 26 Abgeordneten nämlich, die an der Abstimmung schon nicht mehr teilnehmen konnten, weil sie bereits verhaftet oder auf der Flucht waren.

Heute aber ist nicht Routine. Heute wollen wir nicht an der Geschichte vorbeigehen. Wir wollen stehenbleiben, zurückgucken, uns erinnern an das, was damals geschehen ist, vor 80 Jahren, am 23. März 1933, als der Reichstag in der Krolloper mit großer Mehrheit dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt und damit das letzte Hindernis auf dem Weg in die Nazi-Diktatur aus dem Weg geräumt hat.

Wir wollen uns erinnern an einen Mann, Otto Wels, der den Mut hatte, ans Rednerpult zu gehen, und der die richtigen Worte fand, das „Nein“ seiner Fraktion zu begründen. Ich freue mich, dass wir seine Familie heute bei uns zu Gast haben, und begrüße ganz herzlich Edith Wels, die Ehefrau seines Enkels und sozusagen die „Schwiegerenkelin“ von Otto Wels; Gabriele Kamphausen, ihre Tochter, die Urenkelin von Otto Wels; und ihren Sohn Sven Janowski, den Ur-Urenkel von Otto Wels. Schön, dass Sie bei uns sind!
Otto Wels ist nicht der einzige, an den wir heute denken. Alle 94 Abgeordneten der SPD entschieden sich, Nein zu sagen – und die Konsequenzen dafür zu tragen. Bei uns ist heute auch Bischof Markus Dröge. Sein Großvater Alfred Dobbert war einer dieser 94. Schön, Herr Dröge, dass Sie und Ihre Familie heute bei uns sind!

Neben vielen Einzelschicksalen steht im Mittelpunkt des heutigen Tages eine Rede. Eine Rede, die die Zeit überdauert hat. Die uns noch heute in ihren Bann zieht. Die in deutlichen Worten Recht von Unrecht unterscheidet. Ulrich Matthes wird diese Rede gleich für uns zum Leben erwecken. Darauf bin ich sehr gespannt! Vielen Dank, dass Du Dir die Zeit genommen hast und zwischen „Ödipus Stadt“ und „Himbeerreich“ zu uns in den Bundestag gekommen bist. Herzlich willkommen, lieber Ulrich Matthes!

Die Rede von Otto Wels ist in die Geschichte einge-gangen. Sie war die letzte freie Rede, bevor das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte begann, das mit 60 Millionen Toten in Europa endete. Seine Rede und die Haltung seiner Fraktionskollegen, die alle an diesem Tag die Drohung von Haft, Folter oder Flucht vor Augen hatten, ist ein fester Bezugspunkt in der deutschen Geschichte, zuallererst für Sozialdemokraten. Keine andere Fraktion hat damals Nein gesagt. Und noch heute höre ich von älteren Mitgliedern, dass es die Rede von Otto Wels war, die sie oder ihn zum SPD-Eintritt bewogen hat.
Und doch steht die Rede nicht im Museum einer fast 150jährigen SPD! Sie ist längst ein Bezugspunkt für alle Abgeordneten geworden, über Parteigrenzen hinweg. Otto Wels war Sozialdemokrat. Aber vor allem war er Demokrat und leidenschaftlicher Parlamentarier! Und deshalb freue ich mich, unter uns den heutigen Präsidenten des Deutschen Bundestags, Herrn Professor Lammert, begrüßen zu können. Herr Präsident, herzlich willkommen bei uns!

Aus meiner Sicht gibt es drei Gründe, warum die Rede von Otto Wels uns noch heute berührt – und warum sie es verdient, nicht vergessen zu werden.

Das sind zum einen die Zeitumstände. Wer eben schon da war, als wir den Film „Nacht über Berlin“ gesehen haben, hat es noch unmittelbar vor Augen: Der Reichstag brennt, die SA marschiert, die Gegner werden mundtot gemacht. Heinrich August Winkler, der diese Zeitumstände wie kein anderer Historiker in Deutschland kennt, wird das gleich noch sehr viel genauer beschreiben. Herr Professor Winkler, lieber Heinrich, es ist uns eine Ehre, dass Sie unsere Ein-ladung angenommen haben, und gleich zu uns sprechen werden! Ich bin gespannt auf Ihren Vortrag.

Schon beim Lesen, mehr noch beim Hören, sind die bedrohlichen Umstände, unter denen Otto Wels seine Rede hielt, deutlich zu spüren. Die Abgeordneten kennen das Risiko, sie wissen, worum es geht. SA-Soldaten haben sie in die Krolloper eskortiert, Kollegen vom Zentrum haben sie noch kurz vorher gewarnt, mit „Nein“ zu stimmen und den sicheren Weg von Verfolgung und Vertreibung zu gehen. Die Rede von Otto Wels aber sagt laut und deutlich: „Trotzdem!“ Trotz der Gefahr. Trotz der erdrückenden Übermacht der Gegner. Trotz der Aussichtslosigkeit. Es ist dieser Mut, der uns heute noch berührt. Und der in uns die vorsichtige Frage aufkommen lässt: Hätte ich mir das zugetraut? Hätte ich auch so gehandelt?

Das zweite, was diese Rede herausragen lässt, ist ihre Unbestechlichkeit. Als halb Deutschland im Nazi-Taumel versinkt, den Verführungen des Führers lauscht, die Augen vor Gewalt und Verfolgung verschließt – da redet Otto Wels von Demokratie, von Gerechtigkeit, von Freiheit und Frieden. Trotz Drohung und Gewalt setzt Otto Wels auf die Kraft des Wortes, auf das bessere Argument. „Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten", hält er Hitler entgegen. Seine Prinzipien bleiben gültig, auch wenn die Welt aus den Fugen gerät. Das feste Vertrauen in die Unterscheidung von Recht und Unrecht, ja beinah ein Stück Optimismus, dass die Zu-kunft ihm Recht geben werde – auch das klingt aus der Rede heraus.

Drittens, glaube ich, berührt uns die Rede bis heute, weil sie auch heute noch etwas zu sagen hat. Zwar müssen wir in Deutschland längst nicht um Leib und Leben fürchten, wenn wir unsere Meinung äußern. Vielleicht kommt existentielle Bedrohung für unsere Demokratie auch nicht aus der Ecke von denen, die mit Glatzen und Springerstiefeln durch die Straßen marschieren – auch wenn die Morde des NSU erschreckend und beschämend sind, auch wenn die NPD verboten gehört. Aber vielleicht bin ich nicht der Einzige, dem in den letzten Jahren wieder bewusster geworden ist, dass die parlamentarische Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist; keine auf ewig garantierte Sofaecke, in der wir uns gemütlich einrichten können. Die anhaltende Krise in Europa, die Unfähigkeit der europäischen Regierungen, diese Krise zu lösen – daraus könnte eine echte Legitimationskrise für unsere Demokratie erwachsen. „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“- der berühmteste Satz in der Rede von Otto Wels spricht uns direkt an. Otto Wels sagt nicht: Mir kann man die Ehre nicht nehmen. Er sagt: Uns. Was bleibt von der Rede, ist eine Aufforderung an uns alle. Was das heute heißt – mit unserer „Ehre“ für die Demokratie einstehen – auch darüber wollen wir diskutieren, mit Ihnen allen, und zuallererst mit jungen Menschen, die sich für unsere Demokratie engagieren. Ich begrüße bei uns Jana Burkhard vom Netzwerk für Demokratie und Courage; Anja Fischer, die sich im Projekt „Schule gegen Rassismus“ engagiert und Jona Hartmann vom Kinder- und Jugendparlament in Marburg. Herzlich willkommen!

80 Jahre Otto Wels Rede – kein bloßer Gedenktag – ein Weckruf für die Demokratie! Ich freue mich auf die Veranstaltung und den Austausch mit Ihnen!

Herzlichen Dank.