Dass Union und SPD bei den Koalitionsverhandlungen das politische Top-Thema der vergangenen Jahre nur in einer Unterarbeitsgruppe behandeln, hat Irritationen ausgelöst. Europapolitik, so scheint es, rangiert in der großen Koalition nur noch unter "ferner liefen" - als Anhängsel der alles überragenden Haushalts- und Finanzpolitik. Dabei steht bei Europa weit mehr auf dem Spiel als nur Geld, es geht auch um Solidarität, globale Verantwortung und das Eintreten für unsere gemeinsamen Werte. Der Eindruck drängt sich auf: An Europa wird die große Koalition schon nicht scheitern.

Aber ist denn wirklich alles paletti mit Europa? Mitnichten! Nach vier Jahren schwarz-gelbem Durchwurschteln ist in Europa wenig besser, aber vieles schlechter geworden. Ein einfaches "Weiter so" in der Europapolitik darf es mit Schwarz-Rot nicht geben. "Europa endlich besser machen" - das muss einer der Leitsätze der großen Koalition werden, wenn Angela Merkel mit den Stimmen der SPD abermals zur Bundeskanzlerin gewählt werden will. Doch wie könnte ein Europa-Kapitel mit einer sozialdemokratischen Handschrift im Koalitionsvertrag aussehen?

Der soziale Kitt, der unsere Gemeinschaft zusammenhält, zerbröselt immer mehr, die Kluft zwischen den EU-Staaten wächst. Deshalb muss Europapolitik anstelle marktradikaler Wettbewerbslogik und Kürzungsorgien endlich das soziale Fundament stabilisieren. Warum eigentlich stellen wir dem Fiskalpakt, der die Mitgliedstaaten zur Einführung von Schuldenbremsen verpflichtet, nicht einen Sozialpakt mit einer Sozialabbau -Bremse für Löhne, Renten und Gesundheitsleistungen zur Seite? Dafür müssten die Mitgliedstaaten zunächst Zielkorridore und Mindeststandards in den Bereichen Beschäftigungspolitik, Alterssicherung und Gesundheitsversorgung vereinbaren. Das alles würde von Brüssel überwacht und bei Verstößen sanktioniert. Auch beim Kampf gegen die dramatisch hohe Jugendarbeitslosigkeit muss Deutschland mehr tun. Die Existenzängste einer ganzen Generation dürfen nicht länger ignoriert werden. Die EU braucht einen wirksamen Rettungsschirm für Europas Jugend! Die Bundesregierung könnte ein Zeichen der eigenen Entschlossenheit setzen, indem sie einen Koordinator für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit einsetzt. Dieser wäre nach innen die Schnittstelle zwischen den Initiativen der Fachressorts und nach außen der zentrale Ansprechpartner für die Regierungen der Krisenstaaten.

Im Schatten der Krise sind viele andere Themen in den Hintergrund geraten. Das zeigt nicht zuletzt die Tragödie vor Lampedusa, bei der Hunderte von Flüchtlingen aus Nordafrika zu Tode gekommen sind. Viel zu lange haben wir die Augen davor verschlossen, dass Europa ein Einwanderungskontinent ist. Billige Polemik und Zahlenspiele helfen nicht weiter. Stattdessen brauchen wir ein radikales Umdenken in der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik: Dazu bedarf es eines solidarischen Verteilungsschlüssels, der die Aufnahme von Migranten in den EU-Staaten regelt, und europaweiter Mindeststandards für einen menschenwürdigen Umgang mit Flüchtlingen. Darüber hinaus braucht auch die vielbeschworene europäische Wertegemeinschaft einen Neuanfang. Die jüngsten Problemfälle Ungarn, Rumänien, aber auch Italien zeigen, wie hilflos die EU dasteht, wenn in einem ihrer Mitgliedstaaten demokratische und rechtsstaatliche Grundprinzipien in Bedrängnis geraten. Von einem wirksamen Instrumentarium zum Schutz des gemeinsamen Wertekanons ist Europa weit entfernt. In einer großen Koalition muss sich die SPD dafür einsetzen, dass sich künftig alle EU-Staaten einem Grundwerte-TÜV unterziehen müssen und bei Demokratiedefiziten zur Verantwortung gezogen werden.

Bislang kochen in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik immer noch 28 Regierungen ihr eigenes Süppchen. Angesichts des Wirrwarrs der nationalen Interessen bleibt noch viel zu tun, damit die EU auf der internationalen Bühne mit einer Stimme spricht. Die große Koalition wäre gut beraten, zunächst einige wenige strategische Felder zu identifizieren, auf die sich die europäische Diplomatie konzentrieren sollte. Manchmal ist weniger mehr. Den Arabischen Frühling in Nordafrika haben die EU-Staaten verschlafen, in der strategischen Partnerschaft mit Russland fehlt ein klarer Kurs und auch die EU-Nachbarschaftspolitik könnte einen Neustart vertragen. Vom ungeklärten Verhältnis der EU zur Türkei mal ganz zu schweigen.

Deutschland muss mehr Führungsverantwortung in der EU übernehmen. In der Vergangenheit sind wir stets gut damit gefahren, unsere wirtschaftliche und politische Stärke nicht zu dominant auszuspielen. Erfolgreich sind wir nur dann, wenn wir keinen Zweifel an unserer Bereitschaft zur Kooperation und Solidarität aufkommen lassen. Die SPD kann mithelfen, dass Deutschland und Frankreich unter der Einbindung Polens künftig wieder in dieselbe Richtung steuern und Kompromisse schmieden, die auch für die anderen EU-Partner akzeptabel sind. Vor allem auf die Interessen der kleineren Mitgliedstaaten muss Deutschland stärker eingehen als zuletzt.

Wenn CDU und CSU bereit sind, in der Europapolitik auf diese sozialdemokratische Linie einzuschwenken, dann kann die Koalition ihrem Namen gerecht werden und wirklich Großes vollbringen. Michael Roth ist Generalsekretär der SPD Hessen, europapolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und Mitglied der Arbeitsgruppe für Außenpolitik, Verteidigung und Entwicklungszusammenarbeit bei den Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD, die am Mittwoch tagt.

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