Der Bundestag schließt sich dem Urteil der weitaus überwiegenden Zahl von Historikern und Völkerrechtlern an, die die damaligen Geschehnisse als Völkermord an den Armeniern einstufen. Neben den Armeniern wurden auch andere christliche Minderheiten Opfer der Politik des damaligen jungtürkischen Regimes. Aber der Antrag macht auch klar: Es geht nicht um eine einseitige Anklage, auch nicht gegen die heutige türkische Regierung. Eine Mitschuld an den schrecklichen Ereignissen trägt auch das damalige Deutsche Reich, da es trotz zahlreicher Informationen nichts unternommen hat, die Vernichtung der Armenier zu stoppen. Im Vordergrund des Antrags steht die Aufforderung zur vollständigen Aufarbeitung der Ereignisse und zur Versöhnung. Die Bundesregierung wird aufgefordert, dieses mit den ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu unterstützen.

Keine Anklage gegen die aktuelle türkische Regierung

Dass sich die Parlamentarierinnen und Parlamentarier mit den Ereignissen im Osmanischen Reich, dem historischen Vorgänger der heutigen Türkei, beschäftigen, ist nicht neu. Bereits 2005 gedachte der Deutsche Bundestag der Opfer und bekräftigte in einem Antrag die Notwendigkeit der Aufarbeitung und der Versöhnung zwischen Türken und Armeniern. Und auch im Rahmen einer Debatte zum einhundertsten Gedenktag, dem 24. April 2015, wurden die Ereignisse bereits als Völkermord verurteilt, es wurde der Opfer gedacht sowie zur Versöhnung aufgerufen. Bundestagspräsident Norbert Lammert betonte zur Eröffnung der Debatte, dass der Deutsche Bundestag keine Historikerkommission und kein Gericht sei, dass er aber unbequemen Fragen und Tatsachen nicht aus dem Weg gehen könne, vor allem wenn Deutschland selbst Schuld aufgenommen hat.

Das Verhältnis zwischen der Türkei und Armenien ist nach wie vor spannungsreich und von gegenseitigem Misstrauen geprägt. Ziel des aktuellen Antrags (Drs.18/8613) ist es, die Aussöhnung zwischen der Türkei und Armenien weiter voranzutreiben und aktiv zu unterstützen. Dazu gehören politische Impulse ebenso wie Stipendien oder Unterstützung zivilgesellschaftlicher Kräfte aus beiden Ländern. Dabei können die historischen Tatsachen, die sich sowohl auf die Rolle des Osmanischen wie auch des Deutschen Reichs beziehen, jedoch nicht ausgeblendet werden. Der Antrag wurde mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU, Linken und Grünen mit großer Mehrheit angenommen.

Der Antrag beklagt ausdrücklich die Taten der damaligen jungtürkischen Regierung, die zur fast vollständigen Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich geführt haben. Ebenso waren Angehörige anderer christlicher Volksgruppen von gezielten Deportationen und Massakern betroffen. Unabhängige Historiker, Parlamente und internationale Institutionen bezeichnen die Geschehnisse ab dem Jahr 1915 als Völkermord.

Dieser Einschätzung folgt auch der Deutsche Bundestag. Die Türkei bestreitet bis heute eine Planmäßigkeit der Vertreibung, Ermordung und Verfolgung. Daher sorgt dieser Antrag in Teilen des Landes, aber auch in der türkischen Gemeinschaft in Deutschland für Proteste. SPD-Fraktionsvize Rolf Mützenich machte vor dem Bundestag klar: „Dieser Antrag ist keine Klageschrift. Demonstrationen gegen den Antrag sind zulässig, aber zulässig ist es auch, dass der Deutsche Bundestag politische Schlussfolgerungen zieht.“ Mützenich betonte weiter, dass Gegenstand der Debatte der Völkermord an den Armeniern ist und nicht aktuelle Politik des türkischen Präsidenten Erdogans. „Eine differenzierte Debatte ist nötig, um eine Aufarbeitung zu erreichen“, so der für Außenpolitik zuständige stellvertretende Fraktionsvorsitzende. Auch Dietmar Nietan, zuständiger Berichterstatter der SPD-Fraktion für dieses Thema, unterstrich, dass der Bundestag nicht ein Gericht sei und auch niemand auf der Anklagebank sitze: „Der Antrag ist keine Anklage, sondern eine Verneigung vor den Opfern.“ Gerade auch, weil die heutigen Parlamentarierinnen und Parlamentarier als Nachfahren derer, die damals wegeschaut haben, sich nun mit dem Thema auseinandersetzen und so den Opfern gedenken.

Deutsche Mitschuld an systematischen Menschenrechtsverbrechen

Der Antrag stellt auch klar: Nicht nur die Verantwortung des Osmanischen Reichs ist festzustellen, sondern gerade auch die Mitschuld Deutschlands bzw. des damaligen Deutschen Reichs. Dieses hat, auch darin sind sich Historiker einig, nicht versucht, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu unterbinden. Dabei war das Deutsche Reich, militärischer Hauptverbündeter des Osmanischen Reichs, von Anfang an über die Verfolgung und Ermordung der Armenier informiert. Statt aber auf den Partner einzuwirken, wurde das gesamte Thema unter Zensur gestellt. 

Aus der eigenen Geschichte weiß Deutschland, wie wichtig die Aufarbeitung der Ereignisse ist, um zu einer Versöhnung zu gelangen. Dafür müsste die heutige Türkei aber anerkennen, dass es sich bei der Vertreibung und Ermordung von Armeniern und anderer christlicher Minderheiten um Völkermord handelt. Eine Aufarbeitung der Ereignisse sei mühevoll und schmerzlich, sagte Rolf Mützenich, aber sie sei kein Zeichen von Schwäche.

 

Historie

Im Jahr 1914 trat das Osmanische Reich in den Ersten Weltkrieg ein. An der Spitze des Osmanischen Reichs stand von 1913 bis 1918 eine diktatorische jungtürkische Komitteeregierung, welche das wankende Großreich sichern sollte. Daher stellte man sich 1914 an die Seite der so genannten Mittelmächte, bestehend aus dem Deutschen Reich sowie Österreich-Ungarn und später auch Bulgarien. Gemeinsam kämpfte man gegen die Entente-Mächte Frankreich, England und Russland. Unter anderem versuchte das Osmanische Reich Gebiete im Kaukasus von Russland zurückzuerobern. Bei dieser Offensive, die für das Osmanische Reich 1914/15 in einer Niederlage endete, wurde die russische Armee teils von armenischen Freiwilligenbataillonen unterstützt, die sich Hoffnungen auf einen unabhängigen armenischen Staat machten.
Das Osmanische Reich machte daraufhin die Armenier kollektiv für die militärischen Probleme in Ostanatolien verantwortlich. Das, obwohl der Großteil der armenischen Soldaten und Zivilisten loyal gegenüber dem Osmanischen Reich geblieben waren. Die jungtürkische Regierung entschied sich daher im Frühjahr 1915 zu einer Innenpolitik, die sich gezielt gegen die Armenier richtete.
Am Abend des 24. April 1915 verhafteten Polizisten in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, armenische Politiker, Journalisten, Bankiers und Intellektuelle – sie wurden verschleppt, verhört, gefoltert und meist getötet. Diese Verhaftungen fanden in den kommenden Wochen auch in den Provinzstädten Kleinasiens statt. In den Jahren 1915/16 ermordeten Soldaten des Osmanischen Reichs gezielt Hundertausende Armenier durch Massaker und Todesmärsche. Insgesamt kam so mehr als die Hälfte der eineinhalb bis zwei Millionen osmanischen Armenier Kleinasiens ums Leben. Erst das Ende des Ersten Weltkriegs und die damit einhergehende Ablösung des jungtürkischen Regimes beendete die antiarmenische Innenpolitik.

 

Das Wichtigste zusammengefasst:

Der Deutsche Bundestag hat mit einem interfraktionellen Antrag der Opfer des Völkermords 1915/1916 gedacht, bei dem mehr als eine Million Armenier und andere christliche Minderheiten im Osmanischen Reich ermordet wurden. Der Antrag betont neben der Mitschuld Deutschlands die nötige Aufarbeitung und Versöhnung zwischen der Türkei und Armenien. Die Bundesregierung wird aufgefordert, diese Versöhnung aktiv mit den ihr möglichen Mitteln zu untersützen.

 

Johanna Agci